Full text: Das Staatsrecht des Deutschen Reiches. Vierter Band. (4)

8 116. Die Reichsschulden. 365 
des Art. 73 der Reichsverfassung zu veranschaulichen. Alle Ausgaben, 
zu deren Bestreitung diese Schulden kontrahiert werden, finden durch 
die etatsmäßigen Einnahmen Deckung; könnten alle 
Einnahmen und Ausgaben des ganzen Jahres an Einem Tage erfolgen, 
so wäre keinerlei Kreditoperation erforderlich. Der Vorschuß, dessen 
die Reichskasse bedarf, hat nicht den Charakter eines Defizits, son- 
dern eines bloßen Kassenvorschusses, einer Diskontierung der im 
Laufe des Jahres zu erwartenden Einnahmen. Finanz wirtschaft- 
lich wird der Kredit des Staats durch die aus den jährlichen, im 
Etat vorgesehenen Einnahmen einzulösenden Schatzanweisungen nicht 
anders in Anspruch genommen, als wenn der Kaufpreis für die von 
den Verwaltungsbehörden aus Etatsfonds angeschafften Gegenstände 
zeitweise geschuldet wird. Da aber die Beschaffung dieses Vorschusses 
in der Form der Anleihe erfolgt, so findet der Art. 75 der Reichs- 
verfassung Anwendung und ist alljährlich die gesetzliche Ermächti- 
gung des Reichskanzlers zur Ausgabe von Schatzscheinen staatsrecht- 
lich notwendig. Seit dem Jahre 1900 hat aber die Finanznot des 
Reichs dazu verführt, langfristige Schatzanweisungen auszugeben, 
ohne daß deren Tilgung durch Einnahmen des Reichs gesichert ist; 
sie werden scheinbar getilgt durch Ausgabe neuer Schatzanweisungen 
oder Anleihen). Dadurch ist der ursprüngliche Zweck und Charakter 
der Schatzanweisungen verändert worden; sie sind zu einer beson- 
deren Art von Anleihen geworden; sie belasten wie diese den Kredit 
des Reichs. Von den anderen Anleihen unterscheiden sie sich da- 
durch, daß die Gläubiger ein Recht auf Tilgung an einem bestimmten 
Termin haben, die Anleihegläubiger dagegen nicht. Siehe unten. 
II. Die Reichsanleihen?. Da das Deutsche Reich der 
Rechtsnachfolger des Norddeutschen Bundes und vermögensrechtlich 
mit ihm identisch ist, so sind alle Schulden des Norddeutschen Bun- 
des ipso iure auf das Reich übergegangen?). Die französische Kriegs- 
kostenentschädigung bot jedoch die Mittel, sowohl die vom Norddeut- 
schen Bunde zur Bestreitung der Ausgaben für die Kriegsmarine und 
die Küstenverteidigung aufgenommene Anleihe als auch die Kriegs- 
anleihen des Norddeutschen Bundes vollständig zu tilgen®). Nachdem 
aber die Kriegskostenentschädigung aufgebraucht war, hat das Reich im 
Wege des Kredits fast alljährlich bedeutende Summen aufgenommen, 
und zwar sowohl in der Form der Schatzanweisungen mit fester Um- 
laufszeit als in der Form der verzinslichen Schuldverschreibungen ohne 
bestimmten Fälligkeitstermin >). 
1) Reichsgesetz vom 22. Februar 1904 (Reichsgesetzbl. S. 66). 
2) G. S. Freund, Die Rechtsverhältnisse der öffentl. Anleihen. Berlin 1907. 
3) Vgl. dievom Präsidenten desReichskanzleramtes in der Sitzung 
des Reichstages vom 7. Dezember 1870 (Stenogr. Ber. S. 132) abgegebene Erklärung. 
4) Reichsgesetz vom 8. Juli 1872, Art. VI (Reichsgesetzbl. S. 292) und Reichs- 
gesetz vom 28. Oktober 1871 (Reichsgesetzbl. S. 343). Vgl. Annalen a. a. O. S. 488. 
5) Die letztereForm wird in der Terminologie der Reichs-
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.