44 8 97. Der Oberbefehl über die bewaffnete Macht des Reiches.
zustandes ist im wesentlichen als die Einführung einer Militär-
diktatur zu bezeichnen. Dieselbe kann sich auf jeden Teil des
Bundesgebietes (ausgenommen Bayern) erstrecken, also nötigenfalls
auch auf das ganze Bundesgebiet. Die Entscheidung der Vorfrage,
ob die Öffentliche Sicherheit bedroht ist, bat der Kaiser allein‘) zu
entscheiden; weder hat die Landesregierung ein Zustimmungs- oder
Widerspruchsrecht, noch steht dem Bundesrat oder dem Reichstage
eine Beschlußfassung resp. Genehmigung zu.
Im einzelnen gelten darüber folgende Regeln:
l. Die Voraussetzungen,dieFormderVerkündigung
und die Wirkungen einer solchen Erklärung sind durch ein
Reichsgesetz zu regeln; bis zum Erlaß eines solchen gelten dafür
die Vorschriften des preußischen Gesetzes vom 4. Juni 1851
(preuß. Gesetzsamml. 1851, S. 451 ff.)?). Die provisorische Geltung
dieses Gesetzes erstreckt sich daher nicht auf den gesamten Inhalt
desselben, sondern nur auf diejenigen Bestimmungen, welche Voraus-
setzungen, Verkündigung und Wirkungen betreffen ?); und auch diese
beizustimmen. Hänel S.444; Meyer-Dochow Notel; Haldy S.52; Seydel,
Kommentar S. 379.
1) Die Anordnungen in $ 1u.2 des preuß. Gesetzes über dieBehörden, denen
die Erklärung des Belagerungszustandes zusteht, nämlich im Falle des Krieges die
Festungskommandanten und die kommandierenden Generale, im Falle des Aufruhrs
das Staatsministerium und in dringenden Fällen die Militärbefehlshaber, haben keine
Geltung, da sie nicht die Voraussetzungen der Verhängung des Belagerungs-
zustandes betreffen und weil sie durch die ausdrückliche Anordnung im Art. 68 der
Reichsverfassung, daß der Kaiser den Kriegszustand zu erklären habe, beseitigt
sind. Zustimmend Löning S. 23; Meyer-Dochow.a.a. O0. Note l;Seydel
im Wörterbuch S. 159; Hänel S.444; Gümbel S. 179. Die Behauptung v. Rönne's
S. 84, Note 1, daß sie im preuß. Staatsgebiete Geltung haben, im außerpreußischen
nicht, ist gänzlich unbegründet und steht im Widerspruch mit dem Grundsatz, daß
Reichsgesetze (nämlich Art. 68 der Reichsverfassung) den Landesgesetzen vorgehen,
sowie mit dem Prinzip der Einheitlichkeit des Militärrechts. Thudichum, Ver-
fassungsrecht des Norddeutschen Bundes S. 293 hält diese Bestimmungen des preuß.
Gesetzes im ganzen Bundesgebiet für anwendbar, ebenso Arndt, Staatsrecht S. 476 fg..,
was sich durch Art. 68 der Reichsverfassung widerlegt.
2) Reichsverfassung Art. 68.
3) Zu denjenigen Bestimmungen des Gesetzes, welche nicht reichsgesetz-
liche Geltung haben, gehören insbesondere $ 16, wonach das preußische Staatsmini-
sterium zur Suspension gewisser Verfassungsartikel auch dann befugt ist, wenn der
Belagerungszustand nicht erklärt ist. Man pflegt dies den kleinen Belagerungs-
zustand zu nennen; es ist aber überhaupt kein Belagerungszustand, sondern eine zur
Sicherung der öffentlichen Ruhe und Sicherheit dem Gesamtministerium eingeräumte
Befugnis. Das wesentliche Kriterium des Belagerungszustandes, die Unterordnung
der Zivilbehörden unter die Militärbefehlshaber fehlt. Vgl. Haldy S. 62; Hänel
S. 441. Uebrigens hat diese Vorschrift den größten Teil ihrer Bedeutung eingebüßt,
da die in den erwähnten Artikeln der preuß. Verfassung berührten Materien meistens
durch Reichsgesetze geregelt sind und die Behörden der Einzelstaaten reichsgesetz-
liche Bestimmungen nicht außer Kraft setzen können, wofern nicht das Reichsgesetz
selbst sie dazu ermächtigt. Dies ist nur geschehen im Preßgesetz v. 7. Mai 1874
8 30 und im Vereinsges. v. 19. April 1908 824. Unanwendbar ist ferner 8 17, welcher