02 S 101. Das stehende Heer.
Sowie nun aber die Zustimmung des Kaisers (Preußens) zu jeder
gesetzlichen Abänderung der bisher bestehenden Präsenzstärke er-
forderlich ist, so kann andererseits die gesetzliche Grundlage der-
selben“nur durch übereinstimmende Mehrheitsbeschlüsse
des Bundesrates und des Reichstages geschaffen, resp. ver-
längert werden. Denn diese Rechtsgrundlage erlischt ipso jure mit
dem in dem Gesetz selbst festgesetzten Endtermin, falls ein neues
Gesetz über die Präsenzstärke nicht zustande kommt!). In einem
solchen Falle würde es eben an einer gesetzlichen Rechts-
norm über die Friedenspräsenzstärke des Heeres fehlen.
Allein dessenungeachtet würden gewisse verfassungsmäßige oder gesetz-
liche Grundlagen der Heeresorganisation vorhanden sein, welche
nicht interimistisch, sondern dauernd Geltung haben, und welche des-
halb mit dem im Gesetz über die Friedenspräsenzstärke angegebenen
Endtermin nicht mit erlöschen. Dahin gehören die Rechtsvorschriften
über die Wehrpflicht und die Rekrutierung; die reichsgesetzlich fest-
gestellte Anzahl der Kadres und deren Formationen, die Besoldungs-
vorschriften usw.?).
6. Während Art. 60 den Grundsatz aufstellt, daß für die Zeit vom
31. Dezember 1871 ab die Friedenspräsenzstärke des Heeres im Wege
der Reichsgesetzgebung festgestellt wird, bestimmt Art. 63, Abs. 4
der Reichsverfassung: »Der Kaiser bestimmt den Präsenzstand, die
Gliederung und Einteilung der Kontingente des Reichsheeres« Dem
Anschein nach widersprechen sich die beiden Vorschriften, denn
zwischen der »Friedenspräsenzstärkex und dem »Präsenzstand« kann
man keinen Unterschied ausklügeln. Es ist daher nicht zu verwun-
dern, daß man verschiedene Versuche gemacht hat, sie miteinander
in Einklang zu bringen.
Nach einer Ansicht?) soll das Recht des Kaisers darauf beschränkt
sein, die gesetzlich festgestellte Friedensstärke des gesamten Heeres
nach Maßgabe des Art. 58 der Reichsverfassung in die einzelnen Kon-
tingentsziffern zu zerlegen, also ein einfaches Rechenexempel zu lösen.
Es ist wenig wahrscheinlich, daß die Verfassung dem Kaiser eine
Funktion von so geringer Bedeutung zuweisen wollte; überdies lag
gerade die Ersatzverteilung auf die Bundesstaaten bis zum Reichs-
gesetz vom 26. Mai 1893 den Bundesratsausschüssen für das Landheer
und für das Seewesen ob (siehe oben S. 52). Die neueren Friedens-
präsenzgesetze bestimmen selbst die Verteilung auf die 4 Kontingente
(siehe S. 88 Note 1), lassen also keinen Raum für die Bestimmung des
Präsenzstandes der Kontingente seitens des Kaisers ®).
1) Darüber besteht auch in der Literatur keine Meinungsverschiedenheit.
2) Siehe oben S. 83; v. Savigny S. 256. Die Mindestzahl des Personalbestan-
des der Kadres ist allerdings gesetzlich nicht bestimmt, ergibt sich aber annähernd
aus ihrem militärisch-technischen Zweck und den bestehenden Einrichtungen.
3) Brockhausa. a 0.S. 47.
4) Vgl. die Rede des Fürsten Bismarck vom 11. Januar 1887 a. a. O. S. 341.