4. Behördenorganismus des Reiches. 97
wendig und während der Stellvertretung seine Verantwortlichkeit
fortdauert.
Der Kaiser kann, unter diesen Vorausetzungen, einen Stell-
vertreter für den Gesammtumfang der Geschäfte des Reichskanzlers
ernennen, welcher dann als »Reichsvicekanzler« bezeichnet wird.
Letzterer fungirt daher als Stellvertreter des Kanzlers in allen sei-
nen reichsministeriellen Funktionen (als Stellvertreter des Vor-
sitzenden im Bundesrathe nach Artikel 15 nur kraft besonderer
schriftlicher Substitution seitens des Reichskanzlere). Der General-
stellvertreter hat die Leitung aller Verwaltungsgeschüfte des Reiches
und die Gegenzeichnung aller Anordnungen und Verfügungen des
Kaisers, soweit nicht dem Kanzler selbst einzugreifen beliebt.
Ist der Kanzler zeitweise ganz aus den Geschäften geschieden, so
gehen alle Befugnisse und Pflichten auf seinen Generalstellvertreter
über; fungirt aber der Reichskanzler dabei fort, so ist die Verthei-
lung der Geschäfte lediglich in das Ermessen des Reichskanzlers
gestellt.
Nach $ 3 des Gesetzes vom 17. März 1878 ist es dem Reichs-
kanzler vorbehalten, Jede Amtshandlung, auch während
der Dauer einer Stellvertretung, selbst vorzunehmen«.
Dies gilt sowohl von der General- wie von der Specialvertretung.
Dadurch wird das staaterechtliche Verhältniss der Stellvertreter
ganz eigenthümlich bestimmt, indem sie einerseits verantwortlichen
Ministern gleichgestellt, andererseits wesentlich von ihnen unter-
schieden sind. Ersteres findet statt, indem sie für die in ihrer
Eigenschaft vorgenommenen Amtshandlungen dem Reichstage und
dem Bundesrathe allein verantwortlich sind; letzteres zeigt sich
darin, dass der Reichskanzler befugt ist, auch während der Dauer
einer Stellvertretung innerhalb des dem Stellvertreter zugewiesenen
Geschäftskreises selbst jede Amtshandlung vorzunehmen. In diesem
Falle ceseirt natürlich die Verantwortlichkeit des Stellvertreters
und tritt die des Reichekanzlers wieder ein. Der Zweck dieser ganz
eigenthümlichen Doppelstellung wurde in den Verhandlungen klar
dargelegt: »Einmal und vor allem sollte hierdurch die volle Einheit
der politischen Leitung erhalten werden, dergestalt, dass dem
Reichskanzler, falle der Gesammt- oder Specialvertreter falsche
Bahnen durch unrichtige Behandlung eines Amtsgeschäftes ein-
schlägt, stets das Recht zusteht, sein Veto einzulegen, sodann sollte
durch jene Bestimmung den Einzelstaaten jeder Zeit die Befugniss
gewahrt bleiben, auch während der Dauer einer Stellvertretung mit
H. Schulze, Deutsches Stastarecht. I]. 7