Full text: Lehrbuch des Deutschen Staatsrechtes Erstes Buch Das Deutsche Reichsstaatsrecht (2)

5. Von der Reichsgesetagebung. 121 
Wirkung aller Gesetze ganz ohne Rücksicht auf ihren Inhalt, dass 
jedes Gesetz auch nur durch ein Gesetz wieder aufgehoben werden 
kann. Ein Gegenstand, welcher einmal in das Gebiet der Gesetz- 
gebung gezogen worden ist, gehört damit dem Bereiche der Gesetz- 
gebung an und kann nur durch ein neues Gesetz anders geregelt 
werden. Aber diese sog. formelle Gesetzeskraft schliesst die Möglich- 
keit nicht aus, dass eine so zustandegekommene Vorschrift auf dem 
Wege eines sog. derogatorischen Gewohnheitsrechts abgeändert oder 
aufgehoben werde. Wenn wir im Gewohnheitsrechte eine dem 
Gesetzesrechte ebenbürtige Quelle zu erkennen haben, so ist kein 
Grund vorhanden, warum ein älteres Gesetz durch ein neu sich 
bildendes Gewohnheitsrecht nicht aufgehoben oder abgeändert wer- 
den sollte. Dies gilt vom Privatrechte ebenso gut wie vom Staats- 
rechte. Wir geben zu, dass auf letzterem Gebiete bei den scharf aus- 
geprägten Bestimmungen neuer Verfassungen solche Fälle selten 
vorkommen werden, aber die Möglichkeit ist nicht ausgeschlossen, 
wo nicht eine besondere Bestimmung entgegensteht ‚B.1.S. 11). Da 
dies aber im deutschen Reiche nicht der Fall ist, so zweifeln wir 
nicht an der Möglichkeit der Aufhebung oder Abünderung eines 
Gesetzes durch desuetudo. 
Für die Wirkung der Gesetze ist es von Bedeutung, den zeit- 
lichen Anfang ilırer Wirksamkeit zu bestimmen. Jedenfalls steht 
es im Ermessen des Gesetzgebers, den Anfangstermin selbst zu be- 
stimmen ; dies geschieht besonders bei Gesetzen, welche tiefgreifende 
Veränderungen im bestehenden Rechtszustande hervorrufen. Auch 
kann der Gesetzgeber das Inkrafttreten eines Gesetzes der Bestim- 
mung eines neuen Gesetzes oder einer kaiserlichen Verordnung 
überlassen. »Sofern nicht in dem publieirten Gesetze ein anderer 
Anfangstermin seiner verbindlichen Kraft bestimmt ist, beginnt die 
letztere mit dem vierzehnten Tage nach dem Ablaufe desjenigen 
Tages, an welchem das betreffende Stück des Reichsgesetzblattes in 
Berlin ausgegeben worden iste (Artikel 2 der Reichsverfassung‘. 
Deshalb muss auch auf jedem Stücke des Reichsgesetzblattes der 
Tag angegeben werden, an welchem die Ausgabe desselben in Ber- 
lin erfolgt ist (Verordnung vom 26. Juli 1867). Diese Bestimmung 
gilt für das ganze Bundesgebiet, ohne dass hier zwischen einer 
näheren oder weiteren Entfernung von Berlin unterschieden wird, 
aber auch nur für dieses. Neue Gesetze erlangen, soweit nicht 
reichsgesetzlich etwas Anderes bestimmt ist, verbindliche Kraft in 
den Konsulatsbezirken nach Ablauf von vier Monaten, von dem Tage
	        
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