126 II. Von den Funktionen der Reichsgewalt.
Auf anderen weiten Gebieten bewegt sich die Landesgesetz-
gebung noch mit voller Selbständigkeit, indem die Zuständigkeit
des Reiches sich auf dieselben gar nicht erstreckt. Hier haben die
Einzelstaaten nicht bloss Autonomie, wie Körper der Selbetverwal-
tung, sondern ein wahres Gesetzgebungsrecht. Aber da
die Reichsgewalt durch ein verfassungsänderndes Gesetz ihre Kom-
petenz auch auf weitere Gebiete ausdehnen kann, so kann die Lan-
desgesetzgebung auch auf diesen Gebieten mehr und mehr einge-
schränkt werden. Bis dies aber geschehen ist, bewegt sie sich hier
als oberste staatliche Gesetzgebungsgewalt. .
Die schwierigsten Fragen tauchen aber da auf, wo der Reichs-
gewalt und der Staatsgewalt der Einzelstaaten ein konkurriren-
des Recht der Gesetzgebung zusteht, wie dies bei den Gegenständen
der Fall ist, welche Artikel 4 unter sechzehn Nummern aufzählt.
Gerade hier ist eine Kollision der verschiedenen gesetzgebenden
Gewalteu auf demselben Punkte möglich und es bedarf einer stants-
rechtlichen Regel zur Lösung derselben. Diese ist in Artikel 2 der
Reichsverfassung gegeben: »Innerhalb dieses Bundesgebietes übt
das Reich das Recht der Gesetzgebung nach Maassgabe dieser Ver-
fassung und mit der Wirkung aus, dass die Reichsgesetze den
Landesgesetzen vorgehen«. In diesem letzten Satze zeigt sich
so recht der wahrhaft bundesstaatliche Charakter des deutschen
Reiches. Die Reichsgewalt ist die übergeordnete, die Gewalt
der Einzelstaaten die untergeordnete. Alle Normen, welche von
der ersten ausgehen, haben daher den Vorrang vor den Erzeug-
nissen der einzelstaatlichen Gesetzgebung und zwar ohne Ausnahme.
Nicht bloss die eigentlichen Reichsgesetze, auch blosse Reichsver-
ordnungen setzen jedes Landesgesetz ausser Kraft, welches mit ihnen
in Widerspruch tritt ; selbst Bestimmungen einer Landesverfassung
machen keine Ausnahme davon. Das unbedingte Unterord-
nungsverhältniss der Landesgesetzgebung unter die
Reichsgesetzgebung ist das oberste Axiom des deut-
schen Reichastaatsrechtes.
Auf den bezeichneten Gebieten haben allerdings Reichs- und
Landesgewalt ein konkurrirendes Gesetzgebungsrecht. Es hängt
von dem freien Ermessen der Reichsgewalt ab, ob und wann sie von
ihrer Gesetzgebungsbefugniss Gebrauch machen will. Bis sie dies
aber gethan hat, steht jedem Einzelstaate frei, über derartige Gegen-
stünde Gesetze zu erlassen. Erst wenn das Reich von seiner fakul-
tativen Gesetzgebungsbefugniss Gebrauch gemacht hat, wird allea