Full text: Lehrbuch des Deutschen Staatsrechtes Erstes Buch Das Deutsche Reichsstaatsrecht (2)

3. Der Reichstag. 75 
Bundesrathe kommt bereits das einzelstaatliche Element vollständig 
zu seinem Rechte und zwar viel stärker, als in jedem Senate, 
Ständerathe oder Staatenhause. Wir haben zwar den Gedanken zu- 
rückgewiesen, dass der Bundesrath, seiner staatsrechtlichen 
Natur nach, eine erste Kammer oder ein Oberhaus sei, aber trotz- 
dem ist zuzugestehen, dass der Bundesrath thatsächlich in ge- 
wisser Beziehung im Organismus des deutschen Reiches dieselben 
Funktionen ausübt, wie eine erste Kammer, indem die Gesetzgebung 
durch ihn und den Reichstag gemeinsam ausgeübt wird. Eine erste 
Kammer neben dem Bundesrathe würde nicht nur als überflüssig 
erscheinen, sondern den Gang der Gesetzgebungsmaschine aufs 
äusserste erschweren, indem sich nicht nur zwei, sondern immer drei 
Körperschaften über jeden Gesetzentwurf vollständig zu vereinigen 
hätten. Daher muss, solange das deutsche Reich auf seinen heuti- 
gen staaterechtlichen Grundlagen ruht, jeder Gedanke an Ein- 
schiebung eines Oberhauses ernstlich zurückgewiesen werden. Die 
Vertretung des deutschen Volkes kann nur als einheitliche Ver- 
sammlung gedacht werden. 
Der deutsche Reichstag beruht auf dem Einkammersystem. Er 
ist eine reine Wahlkammer, welche aus allgemeinen und direkten 
Wahlen mit geheimer Abstimmung hervorgeht {Artikel 20). Auf 
durchschnittlich 100,000 Seelen derjenigen Bevölkerungszahl, welche 
den Wahlen zum verfassungsgebenden Reichstage zu Grunde gele- 
gen hat, wird ein Abgeordneter gewählt. Ein Ueberschuss von 
mindestens 50,000 Seelen der Gesammtbevölkerung eines Bundes- 
staates wird vollen 100,000 Seelen gleich gerechnet. In einem Bun- 
desstaate, dessen Bevölkerung 100,000 Seelen nicht erreicht, wird 
doch ein Abgeordneter gewählt. Danach betrug die Zahl der Abge- 
ordneten im norddeutschen Bunde 297, dazu kamen die süddeut- 
schen Staaten mit 85 Stimmen, Elsass-Lothringen mit 15 Stimmen, 
sodass die Gesammtzahl der Abgeordneten jetzt 397 beträgt. Eine 
Vermehrung der Zahl der Abgeordneten infolge der steigenden Be- 
völkerung tritt nicht von selbstein, sondern kann nur durch 
ein Gesetz bewirkt werden. Auch die Wahlkreise sind gesetzlich 
festgestellt. Die näheren Bestimmungen über die Wahlen sind in 
dem Wahlgesetz vom 31. Mai 1869 enthalten; dasselbe beruht auf 
dem Reichswahlgesetze vom 12. April 1849, welches in den Verträ- 
gen vom August 1866 als Grundlage für die Wahlen des verfassungs- 
gebenden Reichstages vereinbart worden war. Das Wahlgesetz vom 
31. Mai 1869 wurde in den süddeutschen Staaten und Elsass-Loth-
	        
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