470 Die Vorbereitungen für den Angriff im Westen 1918
Die Ersatzlage brauchte nicht so ungünstig zu sein. Der Ausfall an
Deserteuren war ungemein hoch. Ihre Zahl im neutralen Auslande, z. B.
Holland, belief sich auf Zehntausende. Noch viel mehr hielten sich sorglos
in der Heimat auf, von ihren Mitbürgern stillschweigend geduldet, von den
Behörden nach jeder Richtung hin unbelästigt. Sie und die Drückeberger
an der Front, die sich ebenfalls auf viele Tausende beliefen, minderten die
Gefechtsstärken der fechtenden Truppen und namentlich der Infanterie,
aus der sie der großen Mehrzahl nach stammten, entscheidend. Diese
Menschen mußten dem Heere erhalten bleiben, dann wäre die Ersatzlage
nie so gespannt geworden. Mehr Ersatz konnte aufgebracht werden, wenn
der Kriegswille in der Heimat da war. Von diesem Kriegswillen hing
Entscheidendes ab, aber er versagte.
Der Krieg verbraucht Menschen. Das liegt in seinem Wesen. Die
moderne Abwehrschlacht ist verlustreicher als der Angriff, auch das spricht
für ihn. Die Monate August, September und Oktober 1918 haben uns viel
mehr gekostet als der März, April und Mai desselben Jahres. Der Ab—
gang dieser Monate bestand größtenteils aus Leichtverwundeten, die wieder-
gekommen sind. Die Gefangenen, die wir in der Abwehr verloren, mußten
als endgültiger Verlust gebucht werden. Daß bei den großen Massen, die
in den Kampf geführt wurden, die Verluste trotz aller taktischen Maß-
nahmen an und für sich groß sein mußten, war leider selbstverständlich.
Die Ersatzschwierigkeiten waren im März 1918 nicht behoben, ob—
wohl einige 100 000 Mann zur Verfügung standen. Sie blieben ein un—
sicherer Faktor mehr bei dem gewaltigen Abringen der Kräfte. Auch Eng-
land und Frankreich hatten mit solchen Schwierigkeiten zu kämpfen. Im
Herbst 1917 zählten die englischen Divisionen noch zwölf Bataillone, jetzt
deren neun. Frankreich hatte seit der Aisne-Champagneschlacht weit über
100 Bataillone sowie Territorial= und Territorialreserveformationen auf-
gelöst. Die amerikanischen Neuformationen, die nur einen geringen
Kampfwert haben konnten, waren noch nicht da. Der U-Bootkrieg hatte
weiter gewirkt, wir konnten nicht übersehen, welche Tonnage die Entente
für den Truppentransport verfügbar machen würde.
Das Heer hatte die schweren seelischen Eindrücke der Kämpfe des ver-
gangenen Jahres in dem Bewußtsein überwunden, daß es aus der Ab-
wehr zum Angriff ginge. Der Geist erschien durchaus gefestigt, doch war im
März 1918 nicht zu verkennen, daß die unterirdische Wühlarbeit hier und
da Fortschritte machte. Mit dem Eintreffen des Jahrgangs 99 in den
Rekrutendepots begannen die Klagen über diesen Ersatz und seine mora-
lische Verfassung. Es fiel auch auf, über wie große Geldmittel viele Re-
kruten verfügten. Es mußte dies auf die lange im Felde stehenden, im
Leben älteren Mannschaften ungemein verbitternd wirken.