Object: Deutschland unter Kaiser Wilhelm II. Erster Band. (1)

IV. Ostmarkenpolitik 
Staatsbereich und natio- Es ist zu unterscheiden zwischen dem staatlichen 
naler Besitzstand. Herrschbereich eines Volkes und seinem nationalen 
Besitzstand. Beide fallen selten vollständig zu- 
sammen. Der Versuch, sie einander anzupassen, sei es durch Erringung staatlicher Herr- 
schaft über den Raum nationaler Verbreitung, sei es durch Ausbreitung nationaler Kul- 
tur über das Gebiet staatlicher Macht, beherrscht eine große Summe der Verwicklungen 
in der neueren Geschichte. Er hat seine modernste Ausdrucksform gewonnen in derjenigen 
Form der Kolonialpolitik, die mit einem nicht ganz zutreffenden und bisweilen falsch 
angewandten Schlagwort Imperialismus genannt wird. Waffentüchtige, wirtschaftlich 
geschickte Bölker von überlegener Kultur werden im allgemeinen mit dem Arm ihrer 
staatlichen Macht weiter reichen als mit der Herrschaft ihrer nationalen Kultur und 
ihre Arbeit daran setzen, der machtpolitischen Eroberung die nationale folgen zu 
lassem. Schwache und untüchtige Bölker müssen es ansehen, daß fremde Nationalität 
in ihren Staatsgrenzen an Verbreitung und Geltung gewinnt. Ein drittes gibt es nicht. 
Im Nationalitätenkampf ist eine Nation Hammer oder Amboß, Siegerin oder Besiegte. 
Wäre es auf unserer Erde einzurichten, daß die Nationalitäten sich durch Grenzpfähle 
und Grenzsteine so fein säuberlich von einander trennen ließen wie die Staaten, so wäre 
der Weltgeschichte, wäre der Politik, deren Aufgabe es ja ist, Weltgeschichte zu machen, 
ihr schwerstes Problem genommen. Aber die Staatsgrenzen scheiden nun einmal nicht 
die Nationen voneinander. Wäre es weiterhin möglich, daß die Angehörigen verschiedener 
Nationalitäten, mit verschiedenen Sprachen, Sitten und verschiedenartigem Geistesleben 
Seite an Seite in einem und demselben Staate lebten, ohne der Versuchung zu erliegen, 
einander die eigene Nationalität aufzudrängen, so sähe es ein gut Teil friedlicher aus 
auf Erden. Aber es ist nun einmal Gesetz im geschichtlichen Leben und Werden, daß, 
wo verschiedene nationale Kulturen einander berühren, sie um den Vorrang kämpfen. 
Daß, wo zwei verschiedene Nationalitäten an denselben Raum gebunden sind, es schwer 
ist, beide zufrieden zu stellen, daß es unter solchen Voraussetzungen leicht zu Friktionen 
kommt; und wie es geschehen kann, daß Maßnahmen, die von der einen Seite in gutem 
Glauben getroffen werden, auf der anderen Seite Erregung und Widerstand hervorrufen, 
das zeigt sich vielleicht nirgends so deutlich wie in demjenigen Teil des alten Polens, 
wo nach der Teilung den polnischen Wünschen am weitesten entgegengekommen wurde. 
Ist es den Polen gelungen, in Galizien die Ruthenen zufrieden zu stellen? Führen 
nicht die Ruthenen an den Karpathen und am Pruth die gleichen wenn nicht heftigere 
Klagen als die Polen an der Warthe und Weichsel? Auch andere Länder hallen wider 
von Nationalitätenkämpfen und den Anklagen der Nationalisten gegeneinander. Die 
Aationen sind nun einmal von dem höheren Wert und deshalb dem besseren Recht 
  
  
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