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Analoges gilt für das Verhältnis der Kammern zu dem Präsidenten
in republikanischen Staaten. Sobald das Gesetz sanktioniert ist,
ist es in die Hände einer andern Instanz gelangt, welche selb-
ständig auf Grund der Verfassung ihre Rechte ausübt. Der Kaiser
dürfte also einen -die erfolgte Sanktion aufhebenden Bundesrats-
beschluß nicht berücksichtigen, sondern müßte das Gesetz ausfer-
tigen, weil der Wille der Verfassung für ihn allein maßgebend ist,
nicht derjenige des Bundesrates. Daraus ergibt sich aber mit
Notwendigkeit, daß nach erfolgter Sanktion das Gesetz der Dis-
position des Bundesrates entzogen ist, d. bh. die formelle
Gesetzeskrafterlangt hat!” Der Staatswille ist damit
existent.
Das gleiche Resultat ergibt sich aus anderen Erwägungen.
Es ist im Rechtsleben eine ungewöhnliche Erscheinung, daß eine
Willenserklärung frei widerrufen werden kann. Dies ist nur dann
der Fall, wenn eine besondere gesetzliche Ermächtigung vorliegt,
wie z. B. im Falle des suspensiven Vetos des Präsidenten. Macht
letzterer von seinem Rechte Gebrauch, so erhalten die Kammern
die Freiheit der Entschließung zurück, aber nur in diesem Fall.
Uebt dagegen der Präsident sein Recht nicht aus, so bleiben die
Kammern an das Gesetz gebunden.
Dem entspricht es, daß in der Praxis nie ein Fall bekannt
geworden ist, in dem der Bundesrat die erfolgte Sanktion nach-
träglich zurückgezogen hat. Es würde ein derartiger Versuch
auch sehr leicht an dem Widerspruch eines Einzelstaats
scheitern; denn der Bundesrat ist nicht nur Reichsorgan, sondern
auch das Organ für die Vertretung der Einzelstaaten.
Das angegebene Resultat erhält seine Bestätigung durch den
Wortlaut des Art. 5 Abs. 1 der Reichsverfassung. LABAND '! ist
der Ansicht, daß dieser Artikel mit Art. 2 und 17 der Reichs-
ı Vgl. GrorRG MeyaR, Anteil der Reichsorgane an der Reichsgesetz-
gebung 9.40,
11 Staatsrecht des Deutschen Reichs 1901 II, S. 9.