72 Kriegsnachrichtendienst in den neutralen Ländern
die Nachrichten, die auf diesem Wege aus Rußland eingingen, bei ihrem
Eintreffen überhaupt noch einen Wert haben sollten. England war durch
den Kanal gesichert und nahm den gesamten Verkehr aus den norwegi-
schen, dänischen und niederländischen Häfen unter scharfe Kontrolle. Das
einzige Ubergangsland nach Frankreich war die Schweiz. Frankreich kon-
zentrierte deshalb an der Schweizer Grenze alle Kräfte, die bereits
im Frieden in der Abwehr der Spionage geschult waren. Vor dieser
Grenze lag wie ein Glacis das Gebiet der franzosenfreundlichen West-
schweiz, auf deren Polizei Frankreich sich einen weitgehenden Einfluß
zu verschaffen gewußt hatte. Und die französische Abwehr schob sich
selbst bis an die deutsch-schweizer Grenze vor. Jeder in die Schweiz
aus Deutschland Einreisende wurde sofort an die französisch-schweizerische
Grenze gemeldet.
Die Verhältnisse, wie sie hier angedeutet sind, waren eine weitere
Erschwerung für den Aufbau des deutschen Kriegonachrichtendienstes.
Er mußte sich begnügen, auf deutschem Boden zu bleiben und von dort
aus zu versuchen, ganz allmählich Beziehungen in den feindlichen Län-
dern anzuknüpfen oder Erkunder durch die vom Feind errichtete Sperre
hindurchzubringen. Nichts war verkehrter als die Spionagefurcht der
Entente zu Beginn des Krieges. Sie maß Deutschland an den eigenen
Verhältnissen. Die Schwierigkeiten, die sich vor dem deutschen Nach-
richtendienst auftürmten, sind auf den ersten Blick vom Standpunkt
der deutschen Kriegführung zu bedauern. Sie führten aber dahin, daß
der deutsche Nachrichtendienst im Gegensatz zum feindlichen sich von
jedem schädlichen Ubermaß freihalten mußte und gezwungen wurde, so
straff zu arbeiten, wie es ein Nachrichtendienst tun muß, wenn er zuver-
lässige Ergebnisse für die Kriegführung zeitigen soll.
Wie bereits im ersten Kapitel ausgeführt, war es dem deutschen
Nachrichtendienst gelungen, vor dem Kriege sowohl in Rußland wie in
Frankreich sehr wertvolle Beziehungen zu gewinnen. Diese bewährten
sich auch bis zum Kriegsausbruch. Zur Ehre des französischen und
russischen Volkes ist aber auch bereits gesagt worden, daß alle Be-
ziehungen abrissen in dem Moment des Kriegsausbruches, und daß es
geraume Zeit dauerte, ehe es gelang, die ersten Beziehungen wieder zu
knüpfen. Es war in Frankreich, der Zeitpunkt 1915. Bis dahin waren
aber bereits 35 Deutsche wegen dem feindlichen Nachrichtendienste ge-
leisteter Dienste gerichtlich verurteilt worden. So beschämend diese Tat-