Fiktion eines regierenden Unterhauses. 75
als der Parteiführer angibt, so wird doch auch da die Fiktion
der Selbständigkeit aufrecht erhalten dadurch, daß große
Debatten stattfinden, Anfragen an das Ministerium gerichtet
werden, Mißtrauensvoten beantragt werden usw. Aber die
Freiheit, die sich darin zeigt, beschränkt sich in Wahrheit
auf die beiden Frontbänke, d. h. die Parteiführer hüben
und drüben. Als das Buch von Belloc herauskam, be—
stätigte auch die „Frankfurter Zeitung“, die doch ein extrem
demokratisches Organ ist, die Behauptung Bellocs, daß
die Interpellationen und Anfragen beim Ministerium, die
das Mitregieren der Abgeordneten zum Ausdruck bringen
sollen, ganz wertlos seien, sei vollständig wahrheitsgemäß.
Die Anfragen, schrieb der Korrespondent, werden entweder
ironisch oder ausweichend beantwortet, und wenn das
fragende Mitglied näher darauf eingehen will, schneidet ihm
der Sprecher das Wort ab: Die Frage sei bereits genügend
beantwortet.
Dieser Zustand wird immer mehr als ein schwer zu Abhängig-
ertragender und beinah unwürdiger Druck empfunden. Es keit der Abgeordneten
ist deshalb schon der merkwürdige Vorschlag gemacht von ihrer Pariei
worden, es sollten im Unterhaus die Abstimmungen geheim
stattfinden, weil der einzelne Abgeordnete sich jetzt nicht
trauen kann, mit seiner wirklichen Überzeugung herauszu-
kommen. Auf der anderen Seite will man gerade um-
gekehrt die Oligarchie in der Partei dadurch bekämpfen,
daß man der Wählerschaft das Recht geben will, jeden
Augenblick einzugreifen und den Vertreter abzuberufen.
Den Gedanken, daß das englische Parlament, und in
Frankreich, Amerika naturgemäß ganz ähnlich, tatsächlich
eine sich selbst ergänzende Oligarchie darstellt, können wir
noch auf ein anderes Gebiet verfolgen, wo es uns noch mehr
angeht, und wo dieselbe Erscheinung noch viel frappanter ist.
Delbrück, Reglerung und Volkswille.