Im Deutschen Reichstag nahm Bülow sympathische Stellung zu dem
Bahnplane Aehrenthals und ging dann zu einer abfälligen Kritik über an
solchen Neuerungen auf der Balkanhalbinsel, die die Landeshoheit des
Sultans gefährden und dadurch die Türkei und ihre mohammedanische Be-
völkerung zu äußerstem Widerstande reizen würden. Das betraf die russisch-
englische Balkanpolitik, die bald in der einen, bald in der anderen Art auf
die Schwächung und Vernichtung der Türkei vorbereitend hinarbeitete,
„Beformen‘“ vom Sultan verlangend, die auszuführen er nicht die Macht
besaß und auf der anderen Seite in allen Teilen des Türkischen Reiches Auf-
stände gegen den Sultan bewirkten.
Ferner spielte der deutsche Kanzler an auf die revolutionäre Bewegung im
Zentrum des Türkischen Reiches. Den Kraftmittelpunkt dieser Bewegung
bildete das Jungtürkische Komitee ‚Vereinung und Fortschritt‘. Es be-
stand seit Jahrzehnten und hatte zum Ziel, den Sultan Abdul Hamid zu be-
seitigen und eine Verfassung einzuführen. Die führenden Mitglieder derjung-
türkischen Bewegung hielten sich zum größten Teil in England und Frank-
reich auf und wurden von dort kräftig und dauernd unterstützt und ge-
fördert, denn diese Mächte versprachen sich davon die Zersetzung der Türkei
und die Vernichtung der deutsch-türkischen Beziehungen und damit Ver-
nichtung des Bagdadbahn-Unternehmens. Die Führer des Jungtürkischen
Komitees waren Nationalisten und Patrioten in echtem Sinne. Ihre Stunde
war in dem Augenblick gekommen, als die alten Gegner England und Ruß-
land sich zu Reval geeinigt hatten und Abdul Hamid damit nicht mehr die
Möglichkeit besaß wie früher so oft, diese beiden Mächte gegeneinander aus-
zuspielen. Wenige Wochen nach dieser Einigung hatte das Komitee in Kon-
stantinopel die Macht in den Händen und den Sultan gestürzt. Es prokla-
mierte sofort: ungeschmälerten Bestand des Türkischen Reiches, durch-
greifende Reformen und Gleichberechtigung aller Nationalitäten. Damit
waren die englisch-russischen Zerstückelungspläne vorläufig vertagt worden.
Ebensowenig gingen die Hoffnungen in Erfüllung, daß die Jungtürken nun-
mehr die alten Beziehungen zum Deutschen Reich fallen lassen würden; im
Gegenteil!
Auf der anderen Seite wurde von Petersburg jetzt laut und kräftig die
Parole: ‚Der Balkan den Balkanvölkern‘“ ausgerufen, und die großserbische
Bewegung glaubte sich schon dem Ziel nahe, nämlich zunächst der Lösung
der Okkupationsgebiete von dem Habsburger Reich. In demselben Augen-
blick, Anfang Oktober 1908, erließ der Kaiser von Österreich in einem
Schreiben an den Außenminister die staatliche Eingliederung der Okku-
pationsgebiete in den Körper des Reiches und so ‚erstrecke Ich die Rechte
Meiner Souveränität auf Bosnien und die Herzegowina‘.
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