Full text: Von Potsdam nach Doorn.

See. Die anderen Großmächte waren sich über diese Lage natürlich klar, der 
Kaiser nicht. Deshalb scheiterten auch immer wieder die deutschen Be- 
mühungen, sei es mit Rußland, sei es mit England, wenigstens eine dieser 
Großmächte zu einer wirklichen ehrlichen Zusammenarbeit in der Orient- 
politik zu bringen. Sie blieben auf ihren alten Linien mit dem Ziel: Schwä- 
chung und Zersetzung der Türkei, sobald als möglich deren Vernichtung, 
Stärkung der Balkanstaaten gegen die Türkei und gegen Österreich-Ungarn, 
Zersetzung des Habsburger Staates durch Stärkung seiner südslawischen, 
tschechischen und polnischen Elemente. 
Gewiß waren die Verhältnisse anders geworden wie damals, als Bismarck 
über die Orientfragen sprach. Die alte Frage aber war geblieben: sollte das 
Deutsche Reich für die gewiß sehr wichtigen Balkaninteressen des Habs- 
burger Staates bedingungslos eintreten und sich in diesem Bereich durch die 
Wiener Diplomatie führen lassen ? Bismarck würde es nicht getan haben. 
Damals, 1908 und während der folgenden Jahre, hat es — wie erwähnt 
wurde — auch im Deutschen Reiche Stimmen gegeben, die — ohne Be- 
rufung auf Bismarck — und lediglich aus der Beurteilung der Realität der 
damaligen Lage ebenso dachten. 
Ein schwerwiegender, vielleicht entscheidender Faktor ist noch nicht ge- 
nannt worden; er sollte sich von Jahr zu Jahr deutlicher in der Berliner 
Politik bemerkbar machen, auch bestimmender: 
Die bosnische Krise war friedlich vorübergegangen, Bülow hatte diplo- 
matisch gesiegt. Seitdem stellte sich in der deutschen Bevölkerung, bei Wil- 
helm II. und den Leitern der deutschen Politik, vollends auf dem Boden der 
leichtfertigen Arroganz der Wiener Diplomatie und des Hofes, die Stimmung 
ein: Balkankrisen haben wir gehabt, Krisen werden gewiß noch mehr kom- 
men; aber das arrangiert sich dann schon — den großen europäischen Krieg 
jedoch wird es nicht geben, der kommt nicht, sie haben alle Angst vor uns! 
Mit dem Jahre 1912 nahmen die beiden sogenannten Balkankriege ihren 
Verlauf. Die Bulgaren, die Serben und die Griechen erhoben sich gegen das 
Türkische Reich. Der sicheren deutschen und österreichischen Annahme ent- 
gegen wurden die Türken überall geschlagen, und die bulgarischen Truppen 
drangen bis in die berühmte Stellung vor Konstantinopel, die Tschataldscha- 
Linie, vor. Da legten sich die Großmächte ins Mittel: wenn schon eine andere 
Macht dort sich festsetzen sollte, dann durfte es nicht Buigarien sein! An- 
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