238. Die Befreiung Wiens. 287
langsame Vorrücken der Türken, die sich mit der Plünderung
der Ortschaften und Schlösser aufhielten, gestattete dem Herzoge
von Lothringen, 12000 Mann in die Stadt zu werfen. Dem
türkischen Heere durfte er sich mit seiner kleinen Schaar
nicht in den Weg stellen; er zog daher seitwärts und erwartete
den polnischen König.
Graf Ernst Rüdiger von Stahremberg war zum
Befehlshaber der Stadt ernannt worden. Er war ein er-
fahrener Kriegsheld, zeigte sich wacker und rüstig und that
Alles, Wien in der Eile so gut als möglich in Vertheidigungs-
zustand zu setzen; wer nur arbeiten oder die Waffe führen
konnte, musste mithelfen. Am 14. Juni erschien der Vezier
mit seinem unermesslichen Heere vor der Stadt und breitete sich
in einem ungeheueren Halbkreise, der wohl eine Ausdehnung
von 6 Stunden hatte, um dieselbe aus. Man rechnete an
50 000 Zelte, die die Türken aufgeschlagen. Bald ertönte der
Donner der Geschütze. Gemächlich eröffneten die Türken ver-
schiedene Laufgräben, die sie überdeckten und mit Sandsäcken
belegten, damit ihnen die Bomben und Granaten keinen Schaden
thun konnten. Sie legten Minen an, um die Basteien in
die Luft zu sprengen und durch entstandene Lücken in
die Stadt zu dringen, in der sie reiche Beute zu finden
hofften. Am zehnten Tage liessen sie die erste Mine aul-
fliegen, und dieses beängstigende Schauspiel wiederholte sich
nun tagtäglich, so dass bald ein Tbeil der dicken Stadtmauer
aus seiner Grundfeste gerissen wurde. Achtzehnmal wurde
Sturm gelaufen, vierundzwanzigmal dagegen flelen die Be-
lagerten aus. Was am Tage niedergerissen oder in die Luft ge-
sprengt worden war, suchte man in der Nacht auszubessern.
Kein Sturm, selbst nicht der Hunger und die einbrechenden
Seuchen konnten die Standhaftigkeit der Wiener beugen.
Durch Gefechte, durch Krankheiten und durch ununter-
brochene Strapazen schmolz aber die Besatzung immer mebr.
Nothraketen vom Stephansdome verkündeten die höchste Ge-
fahr. Da erschien der Polenkönig Sobissky mit dem Kur-
fürsten Max Emanuel von Bayern, „der blaue König“ genannt,
und mit vielen andern Fürsten Deutschlands im Lager des
IHerzogs von Lothringen, und vereint eilten sie nun auf kür-
zestem Wege der bedrängten Stadt zu Hilfe. Es liess sich die
Rettung Wiens wagen; denn das vereinigte Heer betrug jetzt
70 000 Mann.
Am Morgen des 12. September sah man im Glanze der
aufgehenden Sonne das christliche Heer von den Höhen des
Kahlenberges herab gegen die Türken ziehen. Dies machte
den türkischen Befehlshaber höchst bestürzt und kleinmüthig.
Seine erste Rachehandlung war, dass der Unmensch 30 000