66 Oie Gelbstverwaltung. II. Buch.
Staatsregierungen haben bei mannigfachen öffentlichen Anlässen mit ähnlichen Kund-
gebungen hoher Anerkennung nicht zurückgehalten. Und die Reichs- wie Staatsgesetz-
gebung des letzten Vierteljahrhunderts hat für eine große Fülle neuer staatlicher
Aufgaben mit Recht die Mitwirkung der Selbstverwaltung in Anspruch ge-
nommen. Es sei bier nur an die Arbeiten auf dem Gebiete der sozialen Gesetzgebung
aller Art, der Kranken-, Unfall-, Invaliden-, Alters- und Hinterbliebenenversicherung, aber
auch der Mitwirkung in der staatlichen Steuerverwaltung, der gewerblichen Aufsichts-
tätigkeit, der Gewerbe- und Kaufmannzgerichte erinnert, deren Bewältigung einen
immer größeren Verwaltungsapparat, natürlich auch stetig wachsende finanzielle Lasten
erforderte.
Staatsaufsicht. Neben dem so bekundeten grundsätzlichen Vertrauen in die Kraft
der Selbstverwaltung kann aber, zumal mit der oben breits be-
llagten Verschärfung der politischen Gegensätze, bei den gesetzgebenden Körperschaften
wie bei der Staatsregierung, ein fühlbarer Mangel an tatsächlichem Vertrauen in ihre
Tätigkeit nicht verkannt werden. Er äußert sich einerseits — und zwar weniger im
Süden und Westen, als besonders im Norden und Osten des Vaterlandes — in einem
starken Drange vieler Staatsinstanzen nach Betätigung staatlicher Auf-
sicht. Daß die Selbstverwaltung staatlicher Aufsicht unterliegen, daß solche auch,
wenn es das Staateinteresse erfordert, mit allem Nachdruck gehandhabt werden muß,
wird niemand bestreiten wollen. Aimmt die Staatsaufsicht sich aber mit zu großer
Liebe der lleinen Alltäglichkeiten des Lebens an, statt nur in großen, wirklich das
Ganze berührenden Dingen ihre Aufgabe zu sehen, so schafft sie nur unnütze Arbeit,
vermehrte Reibungeflächen, aber keinen wirklichen Autzen — bei berechtigter Abwehr
einer aufsichtlichen Betätigung eher Schaden für die Staatsautorität. Sie Übersieht
oder verkennt zugleich, daß ein Hauptzweck für die Selbstverwaltung ja gerade der
ist, an sich der Staatsverwaltung obliegende Aufgaben innerhalb eines örtlich be-
grenzten Kreises durch diejenigen wahrnehmen zu lassen, welchen die entsprechende
staatliche Fürsorge unmittelbar zugute kommen soll, die also naturgemäß selbst das
meiste Interesse an der tunlichst verständigen Erfüllung dieser Staatsaufgaben haben.
Freudiges Vorwärtsschaffen in der vom Staate abgeleiteten Selbstverwaltungsarbeit
wird sicherlich gefördert, je mehr sie sich von großherzigem Vertrauen geleitet sieht; oder
wie Steins verdienstvoller Mitarbeiter Frey es vor 100 Jahren ausdrückte: „Zutrauen
veredelt den Menschen!“ — Einen Mangel an solchem hat aber andererseits die Staats-
verwaltung wie die Gesetzgebung — und das ist die im Allgemeininteresse noch bedauer-
lichere Erscheinung — in einer gewissen besorgten Hintenhaltung voller und freier
Zuständigkeiten der Selbstverwaltung bekundet. Es sei zum Beweise dessen bier
nur an die großen Schwierigkeiten und Bedenken bei der Übertragung einzelner Zweige
der Polizei auf sie — namentlich der für sie so wichtigen Bau- und Wegepolizei — an
die in zahlreichen neueren Gesetzen immer wiederkehrenden besonderen staatlichen Zu-
stimmungen und Genehmigungen zu ihren Beschlüssen, an das ängstliche Fernhalten
ihrer Betätigung im inneren Schulwesen, sowie endlich an den erst jüngst veröffentlichten
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