Die Wehrpflicht. (8. 54.) 97
Reiches die öffentlich-rechtliche Verpflichtung jedes Reichsangehörigen fest—
gestellt, seine Dienstbrauchbarkeit vorausgesetzt, persönlich zum Schutze des
Vaterlandes die Waffen zu führen; der Art. 59 — jetzt in der Fassung des Ges.
v. 15. April 1905 (R. G. B. S. 249) Art. 1 — bestimmt sodann den Umfang der all-
gemeinen Wehrpflicht. Daran schließt sich Art. 53 der Reichsverfassung, welcher in Abs. 4
die Ergänzung des Art. 57 für die Flotte enthält in der Vorschrift: „die gesamte see-
männische Bevölkerung des Reichs, einschließlich des Maschinenpersonals und der
Schiffshandwerker, ist vom Dienst im Landheere befreit, dagegen zum Dienst in der
kaiserlichen Marine verpflichtet.“ Reicht die „seemännische“ Bevölkerung nicht aus,
so wird die „halbseemännische“ Bevölkerung zur Deckung des Marineersatzes herangezogen.t
Die Wehrpflicht, welche in die Dienstpflicht und die Landsturmpflicht zerfällt,
ist zu unterscheiden von der Militärpflicht, nämlich der Pflicht, sich der Aushebung
für das stehende Heer oder die Flotte zu unterwerfen, während deren Dauer die Wehr-
pflichtigen Militärpflichtige heißen.) Mit dem Beginne der Militärpflicht beginnt die
Pflicht der Wehrpflichtigen, sich zur Aufnahme in die Rekrutierungsstammrolle anzu-
melden (Meldepflicht)."“ Die Pflicht der Militärpflichtigen aber, sich behufs der Her-
beiführung einer endgültigen Entscheidung über ihre Dienstpflicht vor den Ersatzbehörden
zu gestellen, wird als die Gestellungspflicht bezeichnet.“ Die Militärpflicht (Melde-
pflicht und Gestellungspflicht) und die Dienstpflicht sind demnach rechtlich die Folgen
der Wehrpflicht.“
Zufolge der Bestimmung des Art. 61 der Verfassung des Norddeutschen Bundes,
welcher wörtlich in die Reichsverfassung überging, war nach Publikation dieser Verfassung
in dem ganzen Bundesgebiete die gesamte preußische Militärgesetzgebung un-
gesäumt einzuführen.?" Die gesetzliche Grundlage für alle Bestimmungen über Wehr-
pflicht, Dienstzeit und Aushebung bildete damals noch in Preußen das Gesetz v. 3. Sept.
1814, betreffend die Verpflichtung zum Kriegsdienste. Die Hauptgrundsätze dieses Ge-
setzes waren: a) allgemeine Wehrpflicht vom vollendeten 17. bis zum vollendeten 49. Lebens-
jahre; b) Einteilung der bewaffneten Macht in stehendes Heer, Landwehr ersten Auf-
1 Diese Ergänzung zur Verfassung gibt die
Wehrordnung §. 23, Ziffer 1, Abs. 2. Die see-
männische u. halbseemännische Bevölkerung ist dann
in Ziffer 2, 3, 4 (Fassung v. 25. März 1904)
folgendermaßen näher bestimmt:
„2. Zur seemännischen Bevölkerung des Reichs
gehören:
a) Seeleute von Beruf, d. h. Leute, welche
mindestens ein Jahr auf See-, Küsten-
oder Haffahrzeugen gefahren sind;
b) See-, Küsten= und Haffischer, welche die
Fischerei mindestens ein Jahr gewerbs-
mäßig betrieben haben;
JP) Schiffszimmerleute und Segelmacher, welche
zur See gefahren sind;
d) Maschinisten, Maschinistengehilfen und Heizer
von Sce= und Flußdampfern;
e) Schiffsköche und Kellner (Stewards);
3. Zur halbseemännischen Bevölkerung ge-
hören:
a) Seeleute, welche als solche auf deutschen
oder außerdeutschen Fahrzeugen mindestens
zwölf Wochen gefahren sind. Hierzu rech-
nen sämtliche Mannschaften, welche sich
haben anmustern lassen und mindestens
12 Wochen gefahren sind (folgt beispiels-
weise Aufzählung von solchen?;
b) Ser-, Küsten= und Haffischer, welche die Fische-
rei zwar weniger als ein Jahr, aber gewerbs-
mäßig, sei es als Hauptgewerbe (Berufs-
fischer), sei es als Nebengewerbe (Gelegen-
heitsfischer) betreiben oder betrieben haben.
v. Rönne-Zorn, Preuß. Staatsrecht. 5. Aufl. II.
4. Zur seemännischen oder halbseemännischen
Bevölkerung gehören auch solche Wehrpflichtige,
welche nach dem 17. Lebensjahre den Bedingungen
zu 2. u. 3. entsprochen haben, zur Zeit der Mel-
dung zum freiwilligen Diensteintritte, der Auf-
stellung der Rekrutierungsstammrolle, der Muste-
rung oder Aushebung aber ihren bisherigen Beruf
aufgegeben und einen anderen Berufergriffen haben“.
* Wehrordnung, §. 5, Ziffer 1. Eine Rechts-
pflicht zu militärischen Diensten über die Land-
sturmpflicht hinaus kann wohl vorkommen (Massen-
7— beruht aber nicht mehr auf der ver-
fassungsmäßigen Wehrpflicht; s. dazu die interessanten
Vorschriften der Haager Kriegsrechtskonvention v.
29. Juli 1899 (R. G. B. 1901, S. 423), Art.
1 u. 2; vgl. hierüber Zorn, Im neuen Reich,
S. 341 ff.
Wehrordnung, §. 22, Ziffer 1 u. 3; Reichs-
militärgesetz v. 2. Mai 1874, §. 10; R. G. v.
6. Mai 1880, Art. II, S. 10 (R. G. Bl. 1880, S. 105).
Reichsmilitärgesetz, §. 31 und Wehrordnung,
§. 25, s. unten S. 126.
* Wehrordnung, §. 26; Reichsmilitärgesetz,
§. 10; R. G. v. 6. Mai 1880, Art. II, §. 10,
s. unten S. 127.
S. die nähere juristische Entwicklung dieser
Begriffe bei Laband, Bd. IV, §. 106. Die
ganze juristische Prägung und Gliederung dieser
Begriffe ist zuerst von Laband gegeben worden.
* S. über Bedeutung u. Umfang des Art. 61
Laband, Bd. IV, S. 19 ff.; Zorn, St. R.,
Bd. II, S. 519.
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