174
Das Staatsbürgerrecht.
G. 57.)
IV. Die Vorschriften des Freizügigkeitsgesetzes v. 1. Nov. 1867, durch welche die
betreffenden Bestimmungen des Heimatsgesetzes v. 31. Dez. 1842 und der über diese
Materie in den seit dem Jahre 1850 mit der preußischen Monarchie vereinigten Landes-
teilen geltend gewesenen Bestimmungen ersetzt worden sind, sind folgende 1:
1. Jeder Reichsangehörige: ist berechtigt, innerhalb des Reichsgebietes:
a) an
jedem Orte sich aufzuhalten oder niederzulassen?, wo er eine eigene Wohnung oder ein
Unterkommen sich zu verschaffen? imstande ist;
5) an jedem Orte Grundeigentum
allerdings einen Wohnsitz in der Gemeinde er-
werben und dadurch Einwohner der Gemeinde,
nicht aber Mitglied (Bürger) derselben werden. Die
neueren Gemeindegesetze erfordern zur Erwerbung
der Mitgliedschaft in einer Gemeinde allerdings nicht
die förmliche Aufnahme als Gemeindemitglied,
sondern nur den (einjährigen) Aufenthalt (vyl.
§§. 3 u. 5 der Städteordnungen v. 30. Mai 1853,
19. März 1856 u. 15. Mai 18560). Aber (§. 13
des Indigenatsgesetzes v. 31. Dez. 1842, vgl.
jetzt §. 12 des G. v. 1. Juni 1870) durch den
bloßen Wohnsitz kann die Staatsangehörigkeit
nicht erworben werden, da aber die Staatsan-
gehörigkeit notwendige rechtliche Voraussetzung der
Gemeindemitgliedschaft ist, so steht der zit. S. 12
dem Erwerbe der Gemeindemitgliedschaft seitens
eines Nichtpreußen durch bloßen Wohnsitz unbe-
dingt entgegen. Nur preußische Staatsangehörige
können im Rechtssinne Gemeindeangehörige sein;
für nichtpreußische Reichsangehörige hat die neuere
preußische Gemeindegesetzgebung allerdings positiv
ausgesprochen, daß sie das Wahlrecht besitzen;
dadurch wird der Unterschied zwischen preußischen
und nichtpreußischen Staatsangehörigen für das
Gemeinderecht in Preußen im Hauptpunkte hin-
fällig; dies ist aber keine Folge des Reichsrechtes,
sondern ein Zugeständnis des preußischen Landes-
rechtes. Vgl. dazu Schön, Recht d. Komm.
Verb. S. 85, 168, 380.
1 S. 1 des preuß. G. v. 1842 lautete: „Keinem
selbständigen preußischen Untertan darf an dem
Orte, wo er eine eigene Wohnung oder ein Unter-
kommen sich selbst zu verschaffen imstande ist, der
Aufenthalt verweigert oder durch lästige Bedingungen
erschwert werden.“
2 Die „Reichsangehörigkeit“ ist lediglich bedingt
durch die Staatsangehörigkeit im einzelnen Bun-
desstaate (vgl. Erkl. des Präsid, des Bundes-
kanzleramtes in den Stenogr. Ber. des Nordd.
Reichstages 1867, Bd. I, S. 535). Vgl. Bd. I,
S. 610 ff. Über die Frage, ob und inwie-
fern auch „juristische Personen“, deren Domizil
im Lande begründet ist, die Rechte der Reichs-
angehörigkeit im Sinne des Art. 3 der R. Verf.
und des §. 1 des Freizügigkeitsgesetzes in Anspruch
zu nehmen berechtigt sind, vgl. Brückner, Über
das gemeinsame Indigenat im Gebiete des Nordd.
Bundes, S. 6, welcher sie in Beziehung auf
Gewerbebetrieb und Grundstückserwerb beiaht.
Dieser Ansicht ist auch Hiersemenzel (Verf.
u. Verw. R. des Nordd. Bundes, Bd. I, S. 283 ff.);
ferner Bockshammer, S. 73 ff.; Mandry,
zivilrechtl. Inhalt d. R. G., S. 41, N. 2; Entsch.
d. R. G. i. Zivils., Bd. VI, S. 142. Dagegen
wird die Frage mit Recht verneint v. Seydel
(Komm. zur Neichsverfassung. S. 55 und Hirths
Ann., Jahrg. 1876, S. 157, N. 2, und Zorn
(St. R. des D. R., Bd. I, S. 349); ferner
Laband, Bd. I. S. 161, N. 2; G. Meyer,
Lehrb., 5. Aufl., S. 716, N. 3; Endemann,
B. G. B., Bd. II, S. 268.
* Der „Aufenthalt“ und die „Niederlassung“
umfassen ihrem Gesamtbegriffe nach jede Form
des Aufenthaltes, welche nicht den Charakter des
im §. 12 des Freizügigkeitsgesetzes angedeuteten
Aufenthaltes als „Fremder“ an sich trägt
(Arnold, Freizügigkeit und Unterstützungswohn-
sitz, S. 30, Anm. 3, welchem Seydel in Hirths
Ann., Jahrg. 1876, S. 160, N. 5 sich an-
anschließt). S. auch über Wohnsitz u. Aufent-
halt speziell das sog. „Dienstdomizil“ Entsch. d.
O. V. G., Bd. X, S. 1, 430, Bd. XIII, S. 120 f.;
##- das Verhältnis von Wohnsitz u. Aufenthalt
Bd. XXX, S. 405; über Niederlassung Bd. XXII,
S. 389 ff.; über das Verhältnis von Aufenthalt
u. Niederlassung ebendaf., S. 394 f.; Aufenthalt,
Bd. XIV, S. 155. (,Zustand“, „Aufenthalts-
verhältnis“) Bd. XL, S. 423, Bd. XII, S. 161,
Bd. XV, S. 56, vgl. auch Jebens, Verwaltungs=
rechtl. Aufsätze 1899) S. 331 ff.; Stier-Somlo,
Schutz des Bürgerrechts, S. 30 ff.
Die Polizeibehörde ist nicht befugt und ver-
pflichtet, die Art und Weise des Unterkommens
zu prüfen und darüber zu befinden, ob dasselbe
ein reelles und für den Unterhalt des Betreffen-
den ausreichendes sei; es kommt lediglich darauf
an, ob der Anziehende neben der Erwerbsfähigkeit
eine Wohnung oder ein Unterkommen besitzt, und
es ist unter letzterem nicht ein besonders nachzu-
weisendes reelles Erwerbsverhältnis zu verstehen,
sondern es hat nur ausgedrückt werden sollen,
daß schon ein „Unterkommen“, z. B. eine Schlaf-
stelle, welche als eigene Wohnung nicht angesehen
werden kann, genügen soll, um den Anziehenden
gegen Ausweisung zu schützen. (Restkr. des Min. d.
Inn. v. 31. Aug. 1868, M. Bl. d. i. Verw.
1868, S. 266). — Vgl. die in gleichem Sinne
sich aussprechende bayerische Min. Entschl. v.
4. Mai 1871, Ziffer 3, in Riedels Komm. z.
Reichsverf. S. 242. In demselben Sinne sprechen
sichauch Arnold Freizügigkeit und Unterstützungs-
wohnsitz, S. 31—32 und Seydel in Hirths Ann.,
Jahrg. 1876, S. 161, N. 3 aus. Entsch. d.
O. V. G., Bd. XXl, S. 394; ferner ülber
„eigenen Hausstand“ Stier-Somlo, Schutz d.
Bürgerrechtes (1904) S. 27 ff.
5 Der Entwurf des Gesetzes hatte den Aus-
druck gewählt: „sich selbst zu verschaffen“, wie
dies auch in dem dem Abs. 1, Nr. 1 des §. 1
des Feizügigkeitsgesetzes entsprechenden 8. 1 des
preus. Heimategesetzes v. 31. Dez. 1842 der
Fall ist. Die Kommission des Reichstages, und
demnächst auch das Plenum desselben, haben —
ohne nähere Motivierung — das Wort „selbst"“
gestrichen, obgleich dasselbe in dem von dem
Neichstagsabgeordneten Gr. Bassewitz gestellten,