216 Das Staatsbürgerrecht. (8. 58.)
waltung. Das Recht der Gesetzgebung ist ein dem Könige nach Maßgabe der in der
Verfassungsurkunde (Art. 62 und 63) enthaltenen Vorschriften zustehendes Hoheitsrecht,
und wenn in Ausübung dieses Rechtes durch Akte der Gesetzgebung bisher bestandene
Privatrechte der Staatsbürger aufgehoben oder eingeschränkt werden, so kann von einer
Anfechtung der betreffenden Gesetze seitens der dadurch Beeinträchtigten sowenig die Rede
sein, als von einem Entschädigungsanspruche gegen den Staat oder Dritte, sofern nicht
das in Rede stehende Gesetz selbst einen solchen zugesprochen hat. Abgesehen indes von
der in einem Gesetze ausgesprochenen Aufhebung oder Einschränkung wohlerworbener
Rechte 2, kann die Staatsgewalt auch genötigt sein, aus Gründen des öffentlichen Wohles
in außerordentlichen Fällen in die Privatrechtssphäre Einzelner verletzend einzugreifen, und
diese Notwendigleit kann insbesondere auch in Beziehung auf das Privateigentum der
Staatsbürger eintreten. Der Art. 9 der Verfassungsurkunde stellt nun die staatsgrund-
gesetzlichen Schranken der Ausübung dieses für die Staatsgewalt in gewissen Fällen un-
entbehrlichen äußersten Rechtes fest. Der Satz: „Das Eigentum ist unverletzlich“, drückt
vor allem aus, daß dasselbe nicht der willkürlichen Enteignung durch die Regierungs-
macht unterliegen, sondern dieser gegenüber geschützt sein solle. Dadurch ist also ins-
1 Diesen Grundsatz spricht auch das Präj. [land, Zur Theorie und Praxis des d. Ent-
des Ob. Trib. v. 8. Mai 1840 (Nr. 863) aus= eignungsrechtes (Leipzig, 1875), S. 3 ff. Kurz
drücklich aus (Präf. Samml. des Ob. Trib., S. 4), und erschöpfend ist das „Prinzip der Enteignung“
Auch die neuere Literatur und Rechtsprechung festgestellt bei G. Meyer in Stengels Wörter-
betrachtet dies als feststehend: G. Meyer, Lehr= buch, 1, S. 356. Ugl. auch Eger, Kommentar
buch, 6. Aufl., herausgegeben von Anschütz, zum Enteignunggsgesetz, Bd. 1, 2 ff., 11, 19; Bd. II.
S. 816 und Zitate, ferner derselbe, Der Staat S. 561, über das „Staatsnotrecht“, auch ohne
und die erworbenen Rechte, S. 16 ff.; Anschütz, Gesetz in das Privateigentum in Fällen der Not
in Verwaltungsarchiv V,. S. 12 ff.: Rehm, in um des Gemeinwohles willen einzugreifen.
v. Stengels Wörterbuch des Verwaltungsrechts, 4 Bei der Revision des Art. 9 war (in der
Artikel Fiskus, 3. Ergänzungsband, S. 97. I. Kammer) die Streeichung dieses Satzes des
* Die Frage, wie weit die Gesetzgebung in selben beantragt worden, „weil derselbe keine
der Aufhebung oder Beschränkung bestehender Wahrheit enthalte“. Der Zentralausschuß der
Privatrechte gehen möge und dürfe, und welche I. Kammer bemerkte indes in seinem Berichte
Grundsätze dieselbe, insbesondere bezüglich der hierüber mit Recht, „daß die Wahrheit des Saucs
Entschädigungsfrage, zu befolgen habe, gehört darin zu finden sei, daß er eben willkürlichen
nicht dem positiven Staatsrechte an, sondern in Enteignungen durch die Regierungsgewalt ent-
das Gebiet der Gesetzgebungspolitik, vgl. darüber gegentrete“ (Stenogr. Ber. der I. Kammer 1845
Zachariä, D. St. u. B. R., 3. Aufl., Bd. II. —50, Bd. 1I, S. 668). Es kam ferner bei der
S. 116 ff. Revision zur Sprache, daß jener Satz dahin gedeutet
Das Recht der Staatsgewalt, in die Privat= werden könne, als trete er der Gesetzgebung über
rechtssphäre des Einzelnen in außerordentlichen, etwaige unentgeltliche Aufhebung von unhaltbar
durch das Gesetz nicht vorgesehenen, Fällen ver= gewordenen Rechten entgegen. Der Bericht des
mittelst einer, durch das überwiegende Interesse Zentralausschusses der I. Kammer (a. a. O.) erklärte
des Ganzen gebotenen Spezialverfügung, ver= sich indes gegen einen Verbesserungsantrag, wel
letzend einzugreifen, wird als: „jus eminens“ dher solcher Auffassung vorzubeugen bezweckte, und
oder: „Staatenotrecht" (äußerstes Necht der sprach sich in dieser Beziehung dahin aus, „daß
Staatsgewalt) bezeichnet, und kann an sich nicht jener allgemeine Satz des Art. 9 nur die Regel
bloß in bezug auf das Eigentum, sondern auch aufstellen, und nicht die Ausnahme enthalten
in bezug auf die Person der Staatsbürger ge= dürfe, wenn letztere nicht als sanktioniert er-
dacht werden. In leuvterer Beziehung kann in= scheinen solle, und daß der allgemeine Grundsatz
des verfassungsmäßig davon nicht die Rede sein, des Artikels keineswegs der Geseugebung Über
sondern es sind hier allezeit die Grundsätze der notwendige unentgeltliche Aufhebung von Rechten
Verfassung und der betreffenden Spezialgesetz= entgegentrete“. — Auch von seiten des Justiz=
gebung (insbesondere Art. 5—9 der Verf. Urk.) ministers (a. a. O., S. 670) wurde letzteres an-
zu beachten, ausgenommen insoweit nach Art. 111 erkannt und hierbei auch noch darauf hingewiesen,
der Verf. Urk. eine Suspension der betreffenden daß der Art. 40 #jetzt Art. 42) der Verf. Urk.
Rechte zulässig und verhängt worden ist. — Vgl. Vorsorge getroffen habe, ein Gesetz über unent
H. Bischoff, Das Notrecht der Staatsgewalt geltliche Aufhebung von Grundlasten erlassen zu
in Gesetzgebung und Regierung, histor. und können. — Diese Ansichten sind durchaus richtig:
dogmat. nach allgem. u. d. Staator. (Giessen, denn der Art. 9 soll nur der willkürlichen Ex
1860 : Zöpfl, Grunds. des gem. d. St. R., propriation durch die Regierungsgewalt entgegen-
5. Aufl., Bd. II, S. 501 ff.; Zachariä, D. treten, keineswegs aber die Geseugebung in der
St. u. B. R., 3. Aufl., Bd. II, S. 116 ff.; v. Ger= Hinsicht beschränken, daß diese nicht berechtigt
ber, Grundzüge des d. St. R., 3. Aufl., S. 41 ff. sein sollte, solche Rechte, welche sie als dem Staats-
— Ulber die Abgrenzung des Enteignungsrechtes wohle widerstreitend erachtet, gegen Entschädigung
vom Staatenotrechte vgl. insbesondere W. v. PRHoh= dder unentgeltlich aufzuheben.