Versammlungs- und Vereinsrecht. (§. 60.) 273
S. 60.
Versammlungs= und Vereinsrecht.!
I. Das Recht der freien Versammlung und der Verbindung Mehrerer zur Erreichung
und Förderung gemeinsamer geistiger und materieller Interessen wurde in früheren Zeiten
vielfach in willkürlichster Weise beschränkt, ja völlig zerstört. Erst die Entwicklung der
Neuzeit, insbesondere die Bewegungen d. J. 1848, haben eine freiere Auffassung zur
Geltung gebracht, indem sie die Anerkennung des Vereins= und Versammlungsrechtes als
eines der staatsbürgerlichen Grundrechte durchsetzten. Die Auslbung dieses Rechtes aber,
auch wenn man es als Grund= und Freiheitsrecht anerkennt, bedarf einer festen Regelung
zur Verhütung eines Mißbrauches, der die Staatsordnung gefährden könnte. Des-
halb wird mit Recht gefordert, daß die Staatsverfassung einerseits das Versammlungs-
recht im allgemeinen anerkenne und Vereinigungen zu nicht strafbaren Zwecken gestatte;
andrerseits aber muß zugegeben werden, daß jene Rechte nicht als unbeschränkte gewährt
werden können, sondern in diejenigen Grenzen eingeschlossen werden müssen, welche er-
forderlich sind, um im Interesse der Staatsordnung jeden Mißbrauch zu verhüten. Da-
zu bedarf es der gesetzlichen Regelung jener Rechte, und zwar in solcher Weise, daß
einerseits das Recht selbst nicht dahin ausarten könne, daß es die gesetzliche Freiheit
und Ordnung beeinträchtige oder gefährde, sondern dem Staat die Möglichkeit gewahrt
bleibe, insoweit einzuschreiten, als es jene Rücksichten erforderlich machen, andrerseits aber
auch das Verhinderungs= und Verbietungsrecht nicht dahin führen könne, das Recht selbst
zu vernichten oder zum bloßen Scheinrechte zu machen. Demnach kann das Vereins-
und Versammlungsrecht, auch wenn man es aus der „natürlichen Freiheit“ ableitet, im
staatsrechtlichen Sinne doch immer nur als ein durch die Notwendigkeiten der staat-
lichen Ordnung begrenztes Recht aufgefaßt werden; der Gedanke, der in den Kämpfen
von 1848 vom Abg. Waldeck ausgesprochen wurde, das Vereins= und Versammlungs-
recht sei eine Kombination der beiden „natürlichen“ „Rechte“ zu sprechen und zu gehen,
ist staatsrechtlich nicht nur haltlos, sondern sinnlos. Die Bedeutung der Bewegung von
1848 für dieses wie für viele andere Gebiete liegt darin, daß Schranken beseitigt wurden,
die der im Rahmen der Staatsordnung möglichen Freiheit der Ausübung jenes Rechtes
hemmend im Wege standen.
II. Die vor dem Jahre 1848 erlassene Gesetzgebung , welche den Grundsätzen der
Freiheit nicht entsprach, war bereits durch den §. 4 der Verordnung v. 6. April 1848
1 Vgl. L. v. Stein, Verwaltungslehre, TlI. IV,
S. 107 ff.; Welcker im Staatslerikon von
Rotteck u. Welcker, 3. Aufl., Bd. 1, S. 758 ff.
(in dem Artikel: „Assoziation“); Brater in
Bluntschlis Staatswörterbuch, Bd. X, S. 755 ff.
(in dem Artikel: „Vereine und Versammlungen“);
Zachariä, D. St. u. B. R., 3. Aufl., Bd. I,
S. 468 ff.; Zöpfl, Grundf. des gem. D. St.
R., 5. Aufl., Tl. II, S. 620 ff.; Bluntschli,
Allgem. St. R., 2. Aufl., Bd. II, S. 518 ff.;
v. Held, System des Verf. R., Tl. II, S. 53 ff.;
G. Meyer-Anschütz, Lehrb. des D. St. R.,
6. Aufl., S. 838 ff.; G. Meyer, Verw. N., Bd. 1,
S. 186 ff.; Reyscher, Publizistische Versuche,
S. 164 ff.; v. Mohl, Württemberg. Staatsrecht,
Bd. 1I, S. 352 ff., 377 ff.; H. Schulze, Preuß.
St. R., Bd. I, S. 106 ff.; ferner die mono-
graphischen Darstellungen des preußischen Vereins-
und Versammlungsrechtes von Thilo (1865);
Zander, (1880); Lisco (1881); Mascher
(2. Aufl. 1892); Caspar (1894); weiter Jolly
in v. Stengels Wörterb. des Verw. R., Bd. II,
S. 666 ff.; Löning in Conrads Handwörterb.
v. Rönne-Zorn, Preuß. Staatsrecht. 5. Aufl. II.
der Staatswissensch., Bd. VI, S. 422 ff.; des-
selben Verw. R., S. 269 ff.; Delius, Das
preuß. Vereins= und Versammlungerecht, 3. Aufl.,
1905, und desselben Rechtsverhältnisse der
geschlossenen Gesellschaften und Vereine nach
preußischem Rechte unter besonderer Berück-
sichtigung der Befugnisse der Polizeibehörden,
1902. — Für die Geschichte vgl. O. Gierke,
Das deutsche Genossenschaftsrecht, Bd. I. S. 865
ff.; Bd. III, S. 769 ff.
* Die älteren gesetzlichen Bestimmungen über
diesen Gegenstand waren folgende: a) Die Vor-
schriften des A. L. R., Teil II, Tit. 6, S§§. 1—10:
§. 1. Unter Gesellschaften überhaupt werden
hier (nämlich im Gegensatze zu den Erwerbs-
gesellschaften, von denen der Abschnitt III
A. L. R., Teil 1, Tit. 17 handelt) Verbindungen
mehrerer Mitglieder des Staates zu einem ge-
meinsamen Endzwecke verstanden. 8§. 2. Inso-
fern dieser Zweck mit dem gemeinen Wohl be-
stehen kann, sind dergleichen Gesellschaften erlaubt.
§. 3. Gesellschaften aber, deren Zweck und Ge-
schäfte der gemeinen Ruhe, Sicherheit und Ord-
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