276 Das Staatsbürgerrecht. (8. 60.)
friedlich und ohne Waffen in geschlossenen Räumen zu versammeln.“ Diese Bestimmung
bezieht sich nicht auf Versammlungen unter freiem Himmel, welche auch in bezug auf
vorgängige obrigkeitliche Erlaubnis der Verfügung des Gesetzes unterworfen find“!
(Art. 29). Versammlung ist veine Vereinigung mehrerer Menschen an einem Orte
zu einem gemeinschaftlichen Zwecke, wenn dieser Zweck zugleich die Ursache der Ver-
einigung ist. (“" In diesem allgemeinen Sinne umfaßt der Begriff auch die gesellige
Versammlung; der Sinn der Verfassung ist aber ein engerer: er bezieht sich nicht auf
gesellige, sondern nur auf Versammlungen, deren Zweck die Behandlung öffent-
licher Angelegenheiten ist. Solche Versammlungen aber sind selbst „öffentliche
Angelegenheit“ und unterliegen demgemäß der Aufsicht derjenigen Behörde, die überhaupt
die öffentlichen Angelegenheiten zu überwachen hat, der Polizei.““
2. „Alle Preußen haben das Recht, sich zu solchen Zwecken, welche den Straf-
gesetzen nicht zuwiderlaufen?, also nicht für verboten zu erachten sind, in Gesellschaften
1 Über den Begriff von „geschlossenen Räu-
men“ pvgl. die Bemerkungen des Abgeordneten
Simson in den Stenogr. Ber. der II. Kammer
1849—50. Bd. II, S. 650. Es sind darunter
„Gebäude“ oder „Häuser“ zu verstehen, weil der
Gegensatz „unter freiem Himmel“ ergibt, daß
man unter „geschlossenen Räumen“ solche hat
begreifen wollen, welche nicht nur in Länge und
Breite, sondern auch in der Höhe geschlossen sind.
* Bei der Revision des Art. 29 war beantragt
worden, die Worte einzuschalten: „Zu solchen
Zwecken, welche den Strafgesetzen nicht zuwider-
laufen“. Die Revisionskommission der II. Kammer
erklärte sich dagegen, indem diese Beschränkung
sich von selbst verstehe, und weil man sich wohl
Versammlungen ohne anderen Zweck, als den des
Beisammenseins, denken könne, nicht aber der-
gleichen Gesellschaften und Vereine, weshalb eine
solche Beschränkung zwar hinsichtlich der Vereine
(Art. 30) unerläßlich sei, in betreff der Versamm-
lungen dagegen bedenklich werden würde, weil man
aus ihr das Recht der Behörden ableiten könnte,
diejenigen, die eine Versammlung zusammenberufen,
trotz der Freiheit solcher Versammlung, im voraus
um deren Zweck zu befragen, durch welche Be-
fugnis das Recht des Art. 29 illusorisch gemacht
werden könnte (Stenogr. Ber. der II. Kammer
1849—50, Bd. II, S. 631). Es ergibt sich
hieraus, daß der Abs. 1 des Art. 29 dahin zu
verstehen ist, das zwar keine Versammlungen „Zu
Zwecken, welche den Strafgesetzen zuwiderlaufen“,
abgehalten werden dürfen, sondern daß, wenn
dies dennoch geschähe, die Berufung auf den
Art. 29 nicht vor der Strafe schützen würde;
andererseits aber darf seitens der Obrigkeit nie-
mals verlangt werden, im voraus die Anzeige
des Zweckes der beabsichtigten Versammlung zu
erhalten, sondern es kann (nach §. 1 des G. v.
11. März 1850) nur die vorgängige Anzeige ge-
fordert werden, daß und wo und wann die Ab-
haltung einer Versammlung stattfinden solle.
* Die Worte: „der Verfügung des Gesetzes“
bedeuten, daß in betreff der Versammlungen
unter freiem Himmel der Gesetzgebung völlig
freie Hand gelassen bleiben soll und daß der-
selben durch die Grundsätze der Verfassung über
das Versammlungerecht keine Schranken gezogen
sein sollen. Die Versammlungen unter freiem
Himmel sollen also nicht bloß in bezug auf vor-
gängige obrigkeitliche Erlaubnis, sondern in allen
Beziehungen der Verfügung des Gesetzes unter-
worfen sein, d. h. die Verfassung räumt der Ge-
setzgebung das Recht ein, in betreff solcher Ver-
sammlungen nicht allein vorzuschreiben, daß fie
nicht anders als mit obrigkeitlicher Genehmigung
stattfinden dürfen, sondern auch außerdem noch
andere Schranken dafür anzuordnen. Um dies
deutlich auszudrücken, wurde bei der Revision
des Art. 29 beschlossen, statt der Worte des Abs. 2
des Art. 27 der Verf. Urk. v. 5. Dez. 1848:
„welche in allen Beziehungen der Verfügung des
Gesetzes unterworfen sind“ zu setzen: „welche auch
in bezug auf vorgängige obrigkeitliche Erlaubuis
der Verfügung des Gesetzes unterworfen find“
(ogl. Stenogr. Ber. der II. Kammer 1849—50,
Bd. II, S. 631 und 650).
4 Diese Definition gibt Caspar, S. 10, im
Anschluß an Entsch. des O. V. G., Bd. XX,
S. 437; bei den parlamentarischen Verhandlungen
über das Vereinsgesetz wurde eine Begriffsbestim-
mung abgelehnt.
5 Vgl. Caspar, S. 12 ff., 56 ff. Ein Ordner
oder Leiter ist nach preußischem Recht nicht un-
bedingt erforderlich, wie dies nach anderen Rech-
ten der Fall ist und von Lisco, S. 1, auch für
das preußische Recht verlangt wird; vgl. auch
Schwartz, Verf. Urk., S. 380 und die dort
zitierten oberstrichterlichen Erkenntnisse.
"* Caspar, S. 66.
7 Bei der Revision des Art. 30 war in der
I. Kammer (von dem Abgeordneten Kisker) be-
antragt worden, statt: „den Strafgesetzen“ zu
setzen: „den Gesetzen“. Dieser Vorschlag beab-
sichtigte, in der Verf. Urk. festzustellen, daß die
Grenze des Vereinigungsrechtes nicht in der
Strafgesetzgebung ausschließlich zu finden sei.
sondern daß es zulässig sein solle, auch durch
anderweitige Gesetze zu bestimmen, zu welchen
Zwecken Vereinigungen unstatthaft sein solltem
(ogl. Stenogr. Ber. der I. Kammer 1819—50.
Bd. II, S. 766—767). In demselben Sinne
hatte auch der Abgeordnete Stahl (a. a. O.,
S. 759) beantragt, den Artikel dahin zu fassen:
„welche den Strafgesetzen nicht zuwiderlaufen.
und für welche nicht durch besondere Gesetze die
Vereinigung untersagt ist“. Der letztgedachte An-
trag wurde indes zurückgezogen und der erst-
erwähnte von der Kammer abgelehnt (a. a. O.
S. 762 und 773). Gegen die abgelehnte weiter-
gehende Beschränkung hatte sich übrigens bereits