628 Die Staatsbehörden. (8. 96.)
zählung oben, S. 364, VII — die in den alten Provinzen geltenden Vorschriften für die
ganze Monarchie in Kraft getreten.! Diese Vorschriften stellen ein Kompromiß dar zwischen
dem reinen Beamtenlandrat und dem eingesessenen Landrat der älteren Zeit, in dessen
Rahmen das Landratsamt eine so großartige und für die ganze Geschichte des Preußi-
schen Staates hochbedeutsame Entwicklung gefunden hatte. Dem modernen Beamten-
gedanken trägt die erste Ziffer Rechnung, und zwar dahin, daß der Justizvorbildung —
„zum Richterdienste“ — genau die gleiche Berechtigung eingeräumt ist, wie der Prüfung
für den höheren Verwaltungsdienst. Dagegen gibt die zweite Ziffer die Möglichkeit, den
althistorischen Gedanken des Landratsamtes zu erhalten.
b) In den Provinzen, für welche die Kreisordnung v. 13. Dez. 1872 (19. März
1881)0 Geltung hat, ist, zufolge §. 74, Abs. 2, der Kreistag befugt, für die Besetzung
des erledigten Landratsamtes geeignete Personen, welche seit mindestens einem Jahre dem
Kreise durch Grundbesitz oder Wohnsitz angehören, in Vorschlag zu bringen.: In der
Provinz Posen ist zwar das Präsentationswahlrecht der Rreistage grundsätzlich anerkannt?,
dasselbe ist indes suspendiert und dem Staate die Ernennung der Landräte vorbehalten,
wobei aber vorzugsweise auf qualifizierte Gutsbesitzer Rücksicht genommen werden soll."
In der Provinz Westfalen und in der Rheinprovinz steht gleichfalls das Recht zur
Präsentationswahl den Kreistagen zu. In der Provinz Westfalen können der Regel
nach nur Rittergutsbesitzer der Kreise gewählt werden; sind aber unter diesen keine Wahl-
fähigen vorhanden, so ist es gestattet, die Wahl auch auf die Notabelsten unter den übrigen
ländlichen Grundbesitzern der Kreise zu richten." Die Notabilität muß indes auf dem
Grundbesitze beruhen und ist nicht in anderen Besitz= und Gewerbselementen, namentlich
nicht in Kapitalvermögen und Fabrik= oder Handelsgeschäften zu suchen.“ In der Rhein-
provinz können die Landräte, deren Präsentationswahl den Kreistagen zusteht, entweder
aus den Rittergutsbesitzern oder aus den notabelsten ländlichen Grundbesitzern gewählt
werden. Die Wählbarkeit vermöge eigentümlichen Grundbesitzes im Kreise erfordert in-
des eine der Wahl vorangegangene mindestens fünfjährige ununterbrochene Dauer dieses
Besitzes; es sind jedoch in Vererbungsfällen die Besitzperioden des Erblassers und des
fikation für das Landratsamt einer einheitlichen
Regelung für das ganze Land bedürfe (vgl. den
Ber. der Kom. des Abg. H. v. 25. Jan. 1881,
betr. den Gesetzentw. über die Abänderung der
Kr. O. v. 13. Dez. 1872, in den Stenogr.
Ber. des Abg. H. 1880—81, Anl. Bd. II, Aktenst.
Nr. 177, S. 1795).
1 Rhein. u. westfäl. Kr. O., §. 30; hannöv.,
§. 22; hesfs.-nass., §. 24; schlesw.-holst., §. 66.
DTUurch die Bestimmungen des §. 74 der
Kr. O. v. 13. Dez. 1872 sind die früher gelten-
den Vorschriften über die Beteiligung der Rreis-
stände an den Wahlen der Landratsamtskandidaten
in den Provinzen Preußen, Brandenburg, Pom-
mern, Schlesien und Sachsen ersetzt worden. Be-
züglich des Kreises Wernigerode bestimmt der §. 1
(Ziffer 2) des Ges. v. 18. Juni 1876, betr. die
Einführung der Kr. O. v. 13. Dez. 1872 in
den Grasschaften Wernigerode und Stolberg
(G. S. 1876, S. 245), daß der Landrat des
Kreises Wernigerode nach Anhörung des Grafen
zu Stolberg = Wernigerode vom Könige ernannt
wird, daß jedoch hierdurch das der Kreisversamm-
lung gemäß §. 74 der Kr. O. zustehende Vor-
schlagsrecht nicht berührt wird. Im Kreise Neu-
wied ist vor der Ernennung der Fürst zu Wied,
im Kreise Wetzlar die Fürsten Solms-Brauns-
feld und Solms-Hohensolms-Lich zu hören. Rhein.
Kr. O., §.99, Z. 2; Ges. v. 18. Juni 1876 (G. S.,
S. 245).
2 Reglement v. 29. April 1829, §. 1 (v. Kamptz,
Ann., Bd. XIII. S. 476, Bergius, Ergänz.
zur Gesetzsamml., S. 299).
4 Kab. O. v. 2. Febr. 1833 (v. Kamptz, Ann.,
Bd. XVII, S. 33). Die posenschen Stände haben
wiederholt auf Wiederaufhebung der Suspenfion
des Präsentationsrechtes der Kreisstände ange-
tragen, allein die Landtagsabschiede v. 6. Aug.
1841, 30. Dez. 1843 u. 27. Dez. 1845 haben
dies nicht bewilligt (uvgl. Rauer, Ständ. Gesetzgeb.,
neue Folge, S. 268, Zus. 1693).
5 Regl. v. 17. März 1828, §§. 1 u. 7 (v. Kampp.
Ann., Bd. XII, S. 32), Instr. v. 25. Jan. 1833.
8. 1 (a. a. O., Bd. XX, S. 513).
* Regl. v. 17. März 1828, §. 4 (v. Kamps,
Ann., Bd. XII, S. 32).
7 Kab. O. v. 15. Jan. 1837 (v. Kamptz, Ann.,
Bd. XXII. S. 15). Ein Bürger oder Einwohner
einer im dritten Stande vertretenen Stadt ist als
ein Notabler unter den ländlichen Grundbesitzern
anzusehen, wenn er sich im Besitze eines die No-
tabilität begründenden ländlichen Gutes befindet
(Reskr. des Min. des Inn. v. 28. Mai 1844,
M. Bl. d. i. Verw. 1844, S. 142). Uber die
Ermittlung der Notabelsten vgl. das Reskr. des-
selben Min. v. 12. Mai 1837 (Rauer, Stünd.
Gesetzgeb., Tl. II, S. 542, Zus. 1053).
s Regl. v. 17. März 1828, s. 4 (v. Kampp.
Anm., Bd. XII, S. 33). Uber die Art und
Weise der Ermittelung des Notabilitätssteuersatzee
vgl. das Publik, des Ob. Präsid. der Rheinprov. v.
30. Mai 1855 (a. a. O., Bd. XX, S. 518).