696 Die Staatsbehörden. (8. 104.)
V. Auf die Rechtsanwaltschaft bei dem Reichsgerichte finden die Vor-
schriften der Rechtsanwaltsordnung nicht unbedingt Anwendung. Die Rechtsanwaltschaft
ist hier nicht in dem Maße wie bei den anderen Gerichten freigegeben, vielmehr ent-
scheidet das Präsidium des Reichsgerichts über den Antrag auf Zulassung vollständig
nach freiem Ermessen; nur kann es niemanden zulassen, dem die Befähigung zum Richter-
amte mangelt oder ein gesetzlicher Ausschließungsgrund entgegensteht. Die Zulassung zur
Rechtsanwaltschaft bei dem Reichsgerichte ist mit der Zulassung bei einem anderen Ge-
richte unvereinbar; die bei dem Reichsgerichte zugelassenen Rechtsanwälte dürfen bei einem
anderen Gerichte nicht auftreten, ebensowenig aber auch ihre Vertretungsbefugnis auf
einen bei dem Reichsgerichte nicht zugelassenen Anwalt übertragen. Die Anwaltskammer
wird durch die bei dem Reichsgerichte zugelassenen Rechtsanwälte gebildet. Die Auf-
sichtsrechte werden durch den Reichskanzler, beziehungsweise das Reichsgericht ausgeübt
(§§. 98—102 der Rechtsanwaltsordnung).
VI. Die Rechtsanwaltsordnung v. 1. Juli 1878 findet in den Konsulats= und
den Kolonialgerichtsbezirken ! keine Anwendung; vielmehr ist hier die Befähigung zur Rechts-
anwaltschaft nicht an bestimmte gesetzliche Voraussetzungen gebunden, und es ist ein Recht
auf Zulassung nicht anerkannt; auch besteht keine Disziplinarordnung. Der Konsul hat
die Personen, welche zur Ausübung der Rechtsanwaltschaft zuzulassen sind, nach seinem
Ermessen zu bestimmen, und die Zulassung ist widerruflich. Gegen die Verfügung des
Konsuls, durch welche der Antrag einer Person auf Zulassung zur Rechtsanwaltschaft
abgelehnt oder die Zulassung zurückgenommen wird, findet Beschwerde an den Reichs-
kanzler statt. Das Verzeichnis der zur Ausübung der Rechtsanwaltschaft zugelassenen
Personen ist in der für konsularische Bekanntmachungen ortsüblichen Weise, jedenfalls
durch Anheftung an die Gerichtstafel bekannt zu machen und dem Reichskanzler an-
zuzeigen.
VII. Aus den dargelegten Rechtsvorschriften im Zusammenhange mit der rechts-
historischen Entwicklung ergibt sich die Bestimmung der staatsrechtlichen Stellung
der Rechtsanwaltschaft im Systeme der deutschen Rechtspflege.* Die Rechtsanwälte
sind weder Beamte im strengen Sinne des Wortes wie Richter und Staatsanwälte, noch
freie Ratgeber in Rechtsangelegenheiten, wie die der Gewerbeordnung unterstehenden so-
genannten Rechtskonsulenten?; sie sind aber ein notwendiger amtlicher Bestand-
teil der Rechtspflege, der zu seinen notwendigen amtlichen Funktionen" regelmäßig
in der Form der Freiwilligkeit, also in einer dem Gewerbebetriebe ähnlichen Weise
herangezogen wird; sie sind überdies auch freie Ratgeber in Rechtsangelegenheiten. Ge-
mäß §. 78 der Zivilprozeßordnung müssen Rechtsanwälte als Vertreter der Parteien
teilnehmen an der Verhandlung über Rechtsstreitigkeiten, wenn der Prozeß vor einem
Landgericht oder vor einem Gerichte höherer Instanz zu führen ist („Anwaltsprozeß"),
indes vor den Amtsgerichten die Mitwirkung von Rechtsanwälten fakultativ ist. Diese
Unterscheidung müßte an sich zu einer begrifflichen Zweiteilung des Amtes führen,
in denjenigen Bestandteil, der ein notwendiges Glied der Gerichtsorganisation und Rechts-
pflege bildet, und den anderen Bestandteil, der freie rechtsbelehrende und rechtsbegutachtende
Tätigkeit ist. Die staatsrechtliche Stellung der Rechtsanwaltschaft bestimmt sich jedoch
nicht nach dem letzteren Gesichtspunkte, sondern lediglich nach dem ersteren, dem der zweite
nur tatsächlich ergänzend hinzutritt, ohne auf die begriffliche Bestimmung Einfluß zu üben.
Die Rechtsanwaltschaft ist danach kein Gewerbe, sondern ein Bestand-
teil derjenigen Organisation der Staatsgewalt, die für die Pflege des
Rechtes geschaffen ist; die Rechtsanwälte nehmen als notwendige Organe der Rechts-
pflege, als gesetzlich geforderte Vertreter der rechtsuchenden Parteien, Anteil an der Aus-
1 Uber die Rechtsanwaltschaft in diesen Ge-Bedeutung beilegt. In den früheren Auflagen
richtsbezirken s. Zorn, St. R. II, S. 405. von v. Rönne ist dieser Punkt nicht behandelt.
* S. Laband, Bd. III, S. 425—429, der die * Gewerbe-O., §. 35.
Frage höchst anregend behandelt, aber m. E. der 4 Zivilprozeß-O., S. 78; Strafprozeß O., SS. 13
„Gewerbeordnung“ für die Konstruktion zu große 144; s. oben, zu III.