Full text: Das Staatsrecht der Preußischen Monarchie. Zweiter Band. (2)

734 Die Staatsbehörden. (8. 107.) 
V. Die Disziplinarbehörden für die Rechtsanwälte. 
Die Gerichte haben gegenüber den Rechtsanwälten nur die in den allgemeinen Be- 
fugnissen der Sitzungspolizei liegende Disziplinargewalt 1; abgesehen hiervon aber unter- 
liegen die Rechtsanwälte nur dem ehrengerichtlichen Verfahren; s. oben, S. 697. 
Durch die Rechtsanwaltsordnung v. 1. Juli 18782 ist die Disziplinargerichtsbar- 
keit hinsichtlich der Rechtsanwälte für den Umfang des Deutschen Reiches von Grund 
aus neugeregelt worden. Die §§. 28, 62 — 82, 102 derselben ordnen das ehren- 
gerichtliche Verfahren bezüglich der Rechtsanwaltschaft bei den Landesgerichten und der 
Rechtsanwaltschaft bei dem Reichsgerichte. Dadurch sind die Bestimmungen der bis- 
herigen Disziplinargesetze, soweit sie die Rechtsanwälte und Advokaten betreffen, in 
Wegfall gekommen, insbesondere die §§. 66, 68—77 des Gesetzes v. 21. Juli 1852, 
die Verordnung v. 30. April 1847 3, der §. 4 des Gesetzes v. 26. März 1856“, 
der Art. V, §§. 68, 69, 72, 73, 74 und der Art. VIII der Verordnung v. 23. Sept. 
1867.5 
Das ehrengerichtliche Verfahren findet statt gegen einen Rechtsanwalt, welcher die 
ihm obliegenden Pflichten" verletzt hat.“ Die Behörden, welche die ehrengerichtliche 
Strafgewalt auszullben haben, sind in erster Instanz der Vorstand der Anwaltskammer 
als Ehrengericht 8, in zweiter Instanz der Ehrengerichtshof. Das Ehrengericht entscheidet 
in der Besetzung von fünf Mitgliedern und besteht aus dem Vorsitzenden, dem stell- 
vertretenden Vorsitzenden und drei anderen Mitgliedern des Vorstandes der Anwalts- 
kammer, welche der Vorstand wählt, indem er zugleich die Reihenfolge bestimmt, in 
welcher die übrigen Mitglieder als Stellvertreter zu berufen sind.“ Wenn das Ehren- 
gericht nicht anders beschließt, findet eine Voruntersuchung statt, mit deren Führung ein 
Richter durch den Präsidenten des Oberlandesgerichts beauftragt wird. 10 Bei der Haupt- 
verhandlung, welche nicht öffentlich ist, ist ein dem Vorstande nicht angehörender, am 
Sitze der Kammer wohnhafter Rechtsanwalt von dem Vorsitzenden als Gerichtsschreiber 
zuzuziehen.!1 Für die Verhandlung und Entscheidung über das Rechtsmittel der Be- 
schwerde 12 ist das Oberlandesgericht zuständig. 19 
Gegen die Urteile des Ehrengerichts ist die Berufung an den Ehrengerichtshof zu- 
lässig, welcher aus dem Präsidenten des Reichsgerichts als Vorsitzenden, drei Mitgliedern 
des Reichsgerichts und drei Mitgliedern der Anwaltskammer bei dem Reichsgerichte be- 
steht.1 Die Mitglieder des Reichsgerichts und deren Stellvertreter werden in derselben 
Weise wie die Mitglieder der Senate 15 durch das Präsidium bestimmt, die Mitglieder 
der Anwaltskammer und deren Stellvertreter vor Beginn des Geschäftsjahres auf die 
Dauer desselben von der Anwaltskammer gewählt. Der Präsident wird in Behinderungs- 
fällen durch den ältesten Senatspräsidenten vertreten. 14 
Die Verrichtungen der Staatsanwaltschaft werden von der Staatsanwaltschaft bei 
dem Oberlandesgerichte, in der Berufungsinstanz von der Staatsanwaltschaft bei dem 
Reichsgerichte wahrgenommen. 17 
  
1 §§S. 180—183 des D. Gerichtsverf. Ges., 
welche Bestimmungen auch gegenüber den Rechts- 
anwälten auf diejenigen gerichtlichen Angelegen- 
heiten entsprechende Anwendung finden, welche zu 
der ordentlichen streitigen Gerichtsbarkeit nicht ge- 
hören. (Vgl. 8. 88 des Ausführ. Ges. v. 24. April 
1878, G. S. 1878, S. 247.) 
2 R. G. Bl. 1878, S. 177 ff. 
2 G. S. 1847, S. 196 ff. 
4 G. S. 1856, S. 201. 
5 G. S. 1867, S. 1613. 
* Nämlich (zuf. §. 28 der Rechtsanwalts-O.) 
die Pflicht, seine Berufstätigkeit gewissenhaft aus- 
zullben und durch sein Verhalten in Ausübung 
des Berufs, sowie außerhalb desselben sich der 
Achtung würdig zu zeigen, die sein Beruf er- 
fordert. 
7 §. 62 der Rechtsanwalts-O. 
  
s 8. 49 a. a. O. 
!" S. 67 a. a. O. 
10 88. 69 — 71 a. a. O. 
11 88. 81, 82 a. a. O. 
1½ Nämlich der sowohl der Staatsanwaltschaft. 
als dem Angeschuldigten oder dessen Verteidiger zu- 
stehenden Beschwerde gegen alle vom Ehrengerichtr 
erlassenen Beschlüsse und gegen die Verfügungen 
des Vorsitzenden, des mit der Voruntersuchung 
beauftragten Richters und des vom Ehrrn- 
gerichte oder vom Untersuchungsrichter ersuchten 
Richters. 
12 §. 89 der Rechtsanwalts-O. 
14 §. 90, Abs. 1 u. 2 a. a. O. 
15 Oben, §. 101 unter II, D, S. 674 f. 
16 §. 90, Abs. 3—5 der Rechtsanwalts-O. 
17 §. 92 a. a. O.
	        
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