Full text: Das Staatsrecht der Preußischen Monarchie. Dritter Band. Erste Abteilung. (3_1)

94 Die Gesetzgebung. (8. 118.) 
Dies folgt schon daraus, daß der Art. 99 (Abs. 2) ausdrücklich vorschreibt, daß der 
Staatshaushaltsetat jährlich „durch ein Gesetz“ festgestellt werden solle, wodurch eben 
die Feststellung durch eine „Verordnung mit provisorischer Gesetzeskraft hat ausgeschlossen 
werden sollen. Überdies bestimmt der Abs. 3 des Art. 62 sogar ein besonderes Verfahren 
für das Zustandekommen des Gesetzes über den Staatshaushaltsetat, nämlich dahin, 
daß der betreffende Entwurf zuerst der Zweiten Kammer vorgelegt werden muß, und 
daß die Erste Kammer (das Herrenhaus) dabei nur in der Weise mitzuwirken berufen 
ist, daß sie den Etat im ganzen annehmen oder ablehnen kann — ein Verfahren, 
welches durch Oktroyierung unmöglich gemacht würde, indem hierbei die Krone ihre 
Sanktion vorweg erteilt, und dadurch das Recht des Hauses der Abgeordneten, sich 
zuerst mit dem Etat zu befassen, verletzt werden würde. Abgesehen hiervon ist aber 
auch eine Oktroyierung hier aus dem Grunde ganz undenkbar, weil in bezug auf das 
Staatshaushaltsetatsgesetz niemals einer derjenigen Fälle vorliegen kann, in welchen der 
Art. 63 eine Oktroyierung nur gestattet.“ Diesen Ausführungen v. Rönnes kann nach 
dem oben über die Zulässigkeit von Notverordnungen Dargelegten nicht zugestimmt werden. 
Da Notverordnungen nur für Verfassungsrecht ausgeschlossen sind, der Etat aber nur 
einfaches Gesetz ist, könnte auch der Etat, falls die Voraussetzungen von Art. 63 ge— 
geben sind, was keineswegs mit v. Rönne als „undenkbar“ zu bezeichnen ist, als Not— 
verordnung erlassen werden. Eine Wiederaufhebung dieser Notverordnung, wozu die 
Regierung verfassungsmäßig bei demnächstiger Verweigerung der Zustimmung der Kam- 
mern verpflichtet wäre, müßte die größte Verwirrung zur Folge haben; die Regierung 
wird also den Weg der Notverordnung für den Etat nur beschreiten können, wenn sie 
der Zustimmung der Kammern — etwa nach einer inzwischen vollzogenen Neuwahl — 
sicher sein darf.1 
2. Während es als Regel gilt, daß der Staatsregierung die Wahl zusteht, in 
welches der beiden Häuser des Landtages sie ihre Vorlagen zuerst einbringen will, ge- 
stattet die Verfassungsurkunde der Staatsregierung ein solches Wahlrecht hinsichtlich des 
von ihr vorzulegenden Staatshaushaltsetats nicht; vielmehr hat das Haus der Ab- 
geordneten nach ausdrücklicher Vorschrift des Art. 62, Abs. 3 vor dem Herrenhause das 
verfassungsmäßige Vorrecht, zu verlangen, daß ihm der jedesmalige Entwurf des Staats- 
haushaltsetats zuerst vorgelegt werde. Der Staatshaushaltsetat darf daher erst dann zum 
Gegenstande der Beratung und Beschlußfassung des Herrenhauses gemacht werden, nachdem 
das Haus der Abgeordneten seine Beratungen darüber abgeschlossen und seine Beschlüsse 
gefaßt hat. Sobald hierauf der von dem Abgeordnetenhause beschlossene Staatshaus- 
haltsetat an das Herrenhaus zur Beratung gelangt ist, hat dieses, gleichfalls nach der 
ausdrücklichen Vorschrift des Art. 62, Abs. 3 der Verfassungsurkunde, keineswegs in 
gleicher Weise wie das Haus der Abgeordneten das Recht, den Etat in seinen einzelnen 
Positionen zum Gegenstande seiner Beschlußfassung zu machen; es ist vielmehr nicht be- 
rechtigt, denselben teilweise zu genehmigen und einen anderen Teil abzulehnen oder 
abzuändern, sondern es hat nur das eingeschränkte Recht, denselben im ganzen an- 
zunehmen oder abzulehnen. Indem der dritte Absatz des Art. 62 der Verfassungsurkunde? 
die beiden erwähnten Vorrechte des Abgeordnetenhauses festsetzt, ist hierbei der Gesichts- 
  
nicht den Anspruch macht, als eine rechtlich ver- 
bindliche Norm angesehen zu werden, so kann 
ihr keine staatsrechtliche Bedeutung, sondern 
nur die beigelegt werden, die Grundsätze zur 
öffentlichen Kenntnis zu bringen, nach welchen 
(im Jahre 1865) die Staatsfinanzverwaltung 
ohne Erfüllung der in Art. 99 der Verf. Urk. 
enthaltenen und verfassungsmäßig notwendig ge- 
botenen Voraussetzung fortgeführt werden solle. 
Erfolgt ist übrigens jene Publikation aus Ver- 
anlassung eines Beschl. des H. H. v. 16. Juni 
1865 (Stenogr. Ber. des H. H. 1865, Bd. I, 
S. 328—329, und Ber. der Budgetkomm. des- 
selben v. 14. Juni 1865, a. a. O., Anl. Bd., 
behaupten auch Arndt, 
  
Nr. 47, S. 471—475), welcher der Staatsregie 
rung diesen Modus anempfohlen hatte. Von dem 
Notverordnungsrechte nach Art. 63 der Verf. Urk. 
hat die Regierung für die Etatsfestsetzung während 
des Verfassungskonfliktes keinen Gebrauch gemacht. 
1 Daß an sich Notverordnung zulässig wäre, 
Verf. Urk., S. 34) 
v. Stengel, Pr. St. R., S. 269; Bornhak?, 
S. 542. 
2 Art. 62 lautet: „Finanzgesetzentwürfe und 
Staatshaushaltsetats werden zuerst der Zweiten 
Kammer vorgelegt; letztere werden von der 
Ersten Kammer im ganzen angenommen oder 
abgelehnt.“
	        
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