144 Die Gesetzgebung. (8. 118.)
Grundlagen der preußischen wie jeder konstitutionellen Verfassung — das Budgetrecht
der Volksvertretung — gänzlich in Frage; fände eine derartige Interpretation in der
Verfassungsurkunde ihre Begründung, so würde dies einer Aufhebung der Verfassung fast
gleichkommen. Es kann daher nicht bestritten werden, daß in der Verwaltung der Ein-
nahmen und Ausgaben des Staates durch ein Staatsministerium, welches die hierzu ge-
mäß Art. 99 der Verfassungsurkunde erforderliche, nur durch ein vereinbartes Staats-
haushaltsgesetz zu erlangende staatsrechtliche Ermächtigung nicht besitzt, dem Art. 99
gegenüber eine Verfassungsverletzung enthalten, daß es daher die verfassungsmäßige
Pflicht der Staatsregierung ist, im Falle es ihr nicht gelingt, das Etatsgesetz zu ver-
einbaren, diejenigen Mittel zur Anwendung zu bringen, welche das konstitutionelle Staats-
recht als die geeigneten und allein zulässigen anerkennt, um die zurzeit nicht erreich-
bare Ubereinstimmung der Staatsregierung mit der Volksvertretung herbeizuführen. Eine
Staatsregierung, welche es unterläßt, auf diesem verfassungsmäßigen Wege die Lösung
des zwischen ihr und der Volksvertretung bestehenden Budgetkonfliktes zu suchen, steht
nicht mehr auf dem Boden des Art. 99 der Verfassungsurkunde; denn ohne einen ver-
einbarten Staatshaushaltsetat ist keine gesetzmäßige Finanzverwaltung denkbar. Es
ist unrichtig, daß eine Regierung, welche die Finanzverwaltung ohne Etat führt, keinen
Verfassungsbruch begeht, sondern verfassungsmäßig regiert.1
)Rechnungskontrolle und Entlastung.
I. Das zufolge Art. 99 der Verfassungsurkunde den Kammern zustehende Budgetrecht
wäre unvollständig, wenn sie nicht auch das Recht hätten, nach Ablauf der Finanzperiode
zu kontrollieren, ob die Staatsregierung die Verwaltung der Einnahmen und Ausgaben
des Staates nach den Vorschriften des Staatshaushaltsetats geführt hat, ob also der
gesetzlich festgestellte Etat von der Regierung wirklich beobachtet worden ist und ob die
im Einverständnisse mit den Kammern festgestellten Ansätze des Etats tatsächlich ein-
gehalten worden sind. In Anerkennung dieses Rechtes der Volksvertretung verpflichtet
die Verfassungsurkunde die Staatsregierung, den Kammern eine vollständige Rechnung
über den Staatshaushalt eines jeden Jahres zu legen, und demzufolge haben die Kam-
mern das Recht, die Finanzverwaltung der Staatsregierung ihrer Prüfung zu unter-
ziehen, mithin das Recht der Kontrolle der Staatsfinanzen. Hierüber bestimmt Abs. 2
des Art. 104 der Verfassungsurkunde, daß die Rechnungen über den Staatshaushalts-
etat von der Oberrechnungskammer geprüft und festgestellt werden und daß hiernächst die
allgemeine Rechnung über den Staatshaushalt jedes Jahres einschließlich einer Ubersicht
der Staatsschulden mit den Bemerkungen der Oberrechnungskammer zur Entlastung der
Staatsregierung den Kammern vorgelegt wird. Abs. 3 des Art. 104 fügt noch hinzu,
daß ein besonderes Gesetz ergehen solle, welches die Einrichtung und die Befugnisse der
Oberrechnungskammer bestimmen werde.
II. Zum Zwecke der Kontrolle des gesamten Staatshaushaltes besteht als ein
selbständiges, von keiner anderen Zentralbehörde abhängiges, nur dem Könige unter-
geordnetes Organ die schon 1714 von Friedrich Wilhelm I. zum gleichen Zwecke er-
richtete Oberrechnungskammer, deren Einrichtung und Befugnisse durch die vom
Könige vollzogene Instruktion v. 18. Dez. 1824 3 bestimmt worden sind. Die Ober-
rechnungskammer hat die Aufgabe, um die Ordnung der Staatsfinanzen zu sichern, nach
dieser Instruktion die kalkulatorische Richtigkeit der Rechnungen und die Ordnungsmäßig-
1 Vgl. auch Lasker, Zur Verfassungsgeschichte
Preußens, S. 362.
* Schmoller und Krauske, Acta Borus-
sica, Bd. II, S. 57 ff.; s. auch G. Meyer-An-
schütz, Lehrb., S. 761, Note 10; Hertel, Die
preuß. Oberrechnungskammer, 1884, Erg.-Heft
1890; E. Meier, Die Oberrechnungskammer, in
v. Holtzendorffs Rechtslexikon, Bd. II, S. 923 ff.;
Meißner, Die das Rechnungswesen des preuß.
Staates umfassenden Gesetze und Verordnungen
betr. Einricht. und Befugn. der Oberrechnungs-
kammer, 2 Bde., 1878/79; Herrfurth, Preuß.
Etats-, Kassen= und Rechnungswesen, 4. Aufl.,
2 Rde., 1905.
3 v. Kamptz, Annalen, Bd. IX, S. 2 ff.;
auch vollständig abgedruckt in den Stenogr. Ber.
des A. H. 1871—172, Anl. Bd. II, Aktenst.
Nr. 148, Anl. A, S. 868 ff.