Das Steuerbewilligungsrecht. (8. 119.)
ministerielle Auslegung dadurch, daß der Art. 109 ebensogut für die Kammern, deren
Mitglieder auf die Verfassung vereidigt sind, verbindlich ist wie für die Steuerpflichtigen,
daß daher die Kammern gegen die Verfassung verstoßen und den Art. 109 verletzen würden,
wenn sie sich weigern, die einmal bestehenden Steuern, solange solche nicht gesetz-
lich aufgehoben sind, in das Budgetgesetz aufzunehmen. Denn das Steuerbewilligungs-
recht der Volksvertretung ist durch den auch für sie verbindlichen Art. 109 eingeschränkt
und darf ohne Abänderung der Verfassung nicht in anderer Weise von ihnen aus-
geübt werden, als es ihnen verfassungsmäßig zusteht; sie haben nicht das Recht, den
gesetzlich bestehenden Steuern die Aufnahme unter den Einnahmeposten des Budgets zu
versagen, sondern diese Steuern bilden eine verfassungsmäßig notwendige Einnahmeposition
des jedesmaligen Budgets. — Wenn nun aber zugegeben werden muß, daß den Kammern
nach der richtigen Auslegung der Art. 99 und 100 der Verfassungsurkunde in Verbin-
dung mit dem Art. 109 ein Steuerbewilligungsrecht lediglich insoweit gebührt, daß ohne
ihre Zustimmung neue Steuern nicht auferlegt und bestehende Steuern nicht er-
höht oder abgeändert werden können, so ergibt sich, daß ihnen in betreff derjenigen
Steuern, welche einmal ohne Bedingung oder Zeitbeschränkung gesetzlich festgestellt worden
sind, kein Bewilligungsrecht zusteht. Die Worte des Art. 109 der Verfassungsurkunde:
„die bestehenden Steuern“ haben sich zwar, wie die Entstehungsgeschichte des Art. 109
ergibt, ihrer ursprünglichen Absicht nach unzweifelhaft nur auf die zur Zeit des Er-
lasses der Verfassungsurkunde bestehenden Steuern und Abgaben beziehen sollen.
Nachdem dieser Artikel aber als eine bleibende Bestimmung in der Verfassungsurkunde
beibehalten worden ist, läßt sich nicht bestreiten, daß Art. 109 dahin zu verstehen ist,
daß keine Steuer oder Abgabe, welche einmal durch ein Gesetz ohne Bedingung oder
Zeiteinschränkung eingeführt worden, anders wieder aufgehoben oder abgeändert werden
kann als durch Vereinbarung sämtlicher Faktoren der Gesetzgebung. Daraus folgt aber
weiter, daß den Kammern auch ein eigentliches Steuerverweigerungsrecht im Sinne
des neueren konstitutionellen Prinzips nicht zusteht. Die Verhandlungen, welche in
beiden Kammern bei der Revision der Art. 99 und 100 in Verbindung mit dem Art. 109
der Verfassungsurkunde stattgefunden haben, ergeben vielmehr unzweifelhaft, daß die Bei-
behaltung des Satzteiles des Art. 109 gerade zu dem Zwecke beschlossen ist, um das
eigentliche Steuerverweigerungsrecht der Kammern auszuschließen." Dagegen ist
die Staatsregierung unbedingt verpflichtet, den Kammern alljährlich den Staatshaushalts-
etat für das nächstfolgende Jahr zur Genehmigung und alljährlich die Rechnung über
ihn zur Entlastung vorzulegen; mithin beschränken sich die in dem Steuerbewilligungs-
recht der Volksvertretung enthaltenen Befugnisse auf folgende Rechte:
a) Recht der Bewilligung oder Verweigerung neuer, Erhöhung oder Abänderung
gesetzlich bestehender, an Bedingungen oder Zeitbeschränkungen nicht geknüpfter Steuern;
b) Recht auf jährliche Vereinbarung des Budgetgesetzes;
e) Recht auf Erteilung oder Verweigerung der Genehmigung von Etatsüber-
schreitungen;
d) Recht auf Vorlegung der jährlichen Rechnung über den Staatshaushaltsetat
verbunden mit dem Rechte der Prüfung und Feststellung dieser Rechnung und der Er-
teilung der Entlastung.
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1 Vgl. hierüber die Stenogr. Ber. der 2. K.
1850—51, Bd. I, S. 264 ff., u. Bd. III, S. 1161,
desgl. 1851—52, Bd. III, S. 1172.
* Die preuß. Verf. Urk. beruht somit in dieser
Materie auf dem Grundsatze, daß die Staats-
bürger bzw. die Volksvertreter verpflichtet seien,
die Mittel zur Deckung der Staatsbedürfnisse,
insoweit solche nicht aus den sonst dazu bestimmten
Mitteln bestritten werden können, zu gewähren;
sie erkennt also kein Steuerbewilligungsrecht in
dem Sinne an, daß die für den Staatsbedarf
v. Rönne-Zorn, Preuß. Staatsrecht. 5. Aufl. III.
notwendigen Steuern auch willkürlich ver-
weigert werden könnten. Somit folgt sie dem
von der vormaligen D. Bundesversamml. in dem
Beschlusse v. 28. Juni 1832, Art. 2 (s. in
v. Meyer, Corpus Juris Konföderationis Ger-
maniae, 3. Aufl., Tl. II, S. 244) ausgesprochenen
Grundsatze, „daß keinem deutschen Souverän
durch die Landstände die zur Führung einer der
Landesverfassung entsprechenden Regierung er-
forderlichen Mittel verweigert werden dürfen“.
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