Full text: Das Staatsrecht der Preußischen Monarchie. Dritter Band. Erste Abteilung. (3_1)

168 Staat und Kirche. 
(S. 121.) 
absolute Macht im Staate, sondern auch die höchste Macht über die Kirche aus.1 Da 
indes der Klerus seinen Beruf nicht, wie die Staatsbeamten, vom Kaiser ableitete, son- 
dern im Dienste der Kirche die vom Staate unabhängige geistige Einheit besaß, strebte 
er nach einer Einheit außerhalb des Staatsoberhauptes. Die Patriarchen unter dem 
Vortritt des Bischofs von Rom als des Nachfolgers des Apostels Petrus erlangten bald 
eine Selbständigkeit der christlichen Kirche selbst dem Kaiser gegenüber. So bildete sich 
das hierarchische System aus, nach welchem die Kirche als unmittelbar göttliche Ein- 
richtung und deshalb als weltbürgerliche, an keine Staatsgrenzen gebundene Gemein- 
schaft, also als universeller Gottesstaat (civitas dei) aufgefaßt wird, dem alle weltlichen 
Staaten selbst eingegliedert sind. Das Episkopat regiert die Kirche, zu deren Leitung 
es durch göttliche Anordnung berufen ist. So bestehen im Mittelalter ? zwei voll- 
ständig ausgebildete organische Verbände nebeneinander, beide der Idee nach die ganze 
Christenheit umfassend, beide mit eigenem Oberhaupte. Der Kaiser steht an der Spitze 
des weltlichen, der Papst an der Spitze des geistlichen Reiches. Über das Verhältnis 
beider Mächte zueinander wurde der große Kampf des Mittelalters geführt, des Staates 
für seine Gleichberechtigung, der Kirche für ihre höhere Macht. Obschon im 13. Jahr- 
hundert die Uberordnung der Kirche über den Staat entschieden war ", zeigte sich 
dieselbe doch bald als unhaltbar und für den Staat unerträglich. Die reformatorischen 
Bestrebungen in Staat und Kirche (im 15. und 16. Jahrhundert) und die Entwicklung 
des modernen europäischen Staatensystems haben die Oberherrlichkeit der Kirche über den 
Staat beseitigt und zur Entwicklung eines anderen Systems über das Verhältnis der 
Kirche zum Staate, des sog. Territorialsystems, geführt. Dieses System faßt die 
christliche Religion als Landesangelegenheit auf und legt dem Staatsoberhaupt dieselbe 
Gewalt in Religionssachen wie in politischen bei, so daß sich in ihm Kirchenhoheit und 
Kirchengewalt vereinigen.° Die Kirche ist danach als staatliche Polizeianstalt in allen 
Beziehungen vom Staate abhängig und ihm untergeordnet. Dieses System hat indes 
in Deutschland schon durch die Beschränkungen, welche der Westfälische Friede der landes- 
herrlichen Kirchenhoheit gesetzt hat, wesentliche Anderungen erfahren. Allmählich hat sich 
ein drittes System über das Verhältnis der Religionsgesellschaften zum Staate entwickelt, 
das der kirchlichen Selbständigkeit, jedoch unter Vorbehalt der staatlichen Kirchen- 
hoheit. Dieses System fordert Gewährung vollkommener Gewissens= und Glaubens- 
freiheit sowie Freiheit zur Bildung von Religionsgesellschaften, während der Staat zu 
Leistungen für die einzelnen Religionsgesellschaften nicht verpflichtet ist, sondern es ihm 
überlassen bleibt, wieweit er der einen oder anderen Kirche Unterstützungen gewähren 
will. Dieses System hat auch in der preußischen Verfassungsurkunde Anerkennung ge- 
funden 5 und gilt trotz formeller Aufhebung des Art. 15 der Verfassungsurkunde? auch 
heute noch in Preußen. 
  
1 Der Kaiser erließ nicht bloß Gesetze zu Schutz auch Symbol und Kultus bestimmen. Cujus 
und Förderung der Kirche, sondern auch über 
Verfassung und Kultus, selbst über Dogmen. Er 
berief die Konzilien der Bischöfe, bestätigte ihre 
Beschlüsse und gab ihnen erst dadurch legitime 
Antorität. 
: Über das mittelalterliche Kirchenrecht Stutz 
a. a. O. Bd. V, S. 316 ff. 
s Sachsenspiegel, I, 1: „Zwei Schwerter ließ 
Gott auf Erden, zu beschirmen die Christenheit. 
Dem Papst ist gesetzt das geistliche, dem Kaiser 
das weltliche“ (Zweischwerter-Lehre). 
4 Bornhak, Pr. St. R.22, Bd. III, 1914, 
S. 663 f. 
5 Nach diesem System kann der Landesherr 
  
regio, ejus religio. Dem Landesherrn steht ein 
unbes schränktes jus reformandi zu. 
6 Art. 12 ff. Dasselbe System liegt den Be- 
stimmungen der Grundrechte des deutschen Volkes 
und der deutschen Reichsverfassung v. 28. März 
1849 (88§. 144 ff.), sowie den Beschlüssen des Er- 
furter Unionsparlaments zugrunde. 
* Zorn, Kirchenrecht, S. 2092; Hinschius, 
Preuß. Kirchenrecht, 1884, S. 18, Note 40; 
Hinschius, Staat und Kirche, S. 231 ff., 266 ff.; 
Kahl, Lehrsystem, S. 278,309ff.; Stutz, Kirchen- 
recht, a. a. O., Bd. V, S. 396; Schoen, Kirchen- 
recht, Bd. J, S. 159; Anschütz, Die Verf. Urk. 
für den preuß. Staat, Bd. I, 1912, S. 292, 296 ff.
	        
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