174 Staat und Kirche. (8. 124.)
8. 124.
B) Die Aufsicht über die Religionsgesellschaften.
I. Der Staat kann verlangen, daß jede Kirche und sonstige Religionsgesellschaft
ihr Regiment so führt, daß dabei weder in seinen eigenen Bereich gefährdend oder ver-
letzend übergegriffen noch das Recht anderer Kirchen und Religionsgesellschaften beein-
trächtigt wird. Hieraus ergibt sich das in der Kirchenhoheit des Staates enthaltene
Recht der Oberaufsicht über die christlichen Kirchen und anderen Religionsgesellschaften
Gus inspiciendi cavendi, jus supremae inspectionis saecularis in causis eccle-
Siasticis) 2, welches den Staat berechtigt, von allem, was in der Kirche vorgeht, Kennt-
nis zu nehmen und diejenigen Maßregeln zu treffen, welche erforderlich sind, um Uber-
griffe in den Bereich der Staatsgewalt zu verhüten oder zurückzuweisen. Dieses Recht
wird zu dem Zweck geübt, um etwaigen Nachteilen für den Staat vorzubeugen oder
diese zu beseitigen, und um die Kirchen und die Religionsgesellschaften in den ihnen zu-
gewiesenen Schranken zu halten. Das Recht des Staates erstreckt sich auf alle Anord-
nungen, welche von dem Regiment der Kirchen oder der Religionsgesellschaften ausgehen,
sowohl bezüglich des inneren kirchlichen Lebens (Lehre, Kultus, Liturgie) als auch der
Verfassung und Verwaltung der Kirche. Indes kann sowohl der Umfang des staatlichen
Oberaufsichtsrechtes im einzelnen als auch die Art und Weise seiner Ausübung sehr
verschieden sein; jedenfalls hat sich der Staat in dieser Hinsicht da, wo das System der
Religionsfreiheit besteht, in engeren Grenzen zu bewegen, als wo das Territorialsystem
noch in Kraft ist.
II. Das Allgemeine Landrecht erkennt ein ausgedehntes Oberaufsichtsrecht des
Staates über alle Kirchengesellschaften an. Es bestimmt im allgemeinen hierüber a) daß
die Privat= und öffentliche Religionsübung einer jeden Kirchengesellschaft der Oberaufsicht
des Staates unterworfen 3 und daß der Staat berechtigt ist, von demjenigen, was in
den Versammlungen der Kirchengesellschaft gelehrt und verhandelt wird, Kenntnis ein-
zuziehen 4; b) daß das Kirchenvermögen unter der Oberaufsicht und Direktion des Staates
steht, welcher berechtigt ist, darauf zu sehen, daß die Einkünfte der Kirchen zweckmäßig
verwendet werden.? Abgesehen von diesen allgemeinen Bestimmungen behält das Allge-
meine Landrecht im einzelnen für viele Fälle dem Staate ein Genehmigungs= und Be-
stätigungsrecht vor.
III. Die Verfassungsurkunde' hat, wie oben bereits bemerkt, den Grundsatz
1 Richter-Dove-Kahl, Kirchenr., §. 100; alle christlichen, wie andere kirchliche Gemein-
Kahl, Lehrsystem, S. 349 ff. (mit eingehenden
Literaturangaben); Hinschius, Staat und Kirche,
S. 318, 342; Singer in Deutsche Ztschr. für
Kirchenr., Bd. XXVII (3. Folge, Bd. V), S. 6Off.,
Bd. XXX (3. Folge, Bd. VIII), S. 30 ff.; Stutz,
a. a. O., S. 407 f.; Schoen, Kirchenrecht, Bd. 1,
S. 175 ff.; Anschütz, Verf. Urk., Bd. I, S. 282ff.;
Kahl, Art. Kirchenhoheit, in v. Stengel-Fleisch-
manns W. St. V. R.2, Bd. II, S. 572 ff.;
Schoenborn, Das Oberaufsichtsrecht des Staa-
tes, 1906, S. 40 ff.
Das Landesverfassungsges. für Hannover
v. 6. Aug. 1840 (G. S. für Hannover 1840,
Abt. I, S. 141 ff.), §. 64, und die kurhessische
Verf. Urk. v. 5. Jan. 1831 (G. S. f. Kurhessen
1831, S. 1 ff.), S. 133, haben ausdrücklich aus-
gesprochen, daß der Staatsregierung bzw. dem
Staatsoberhaupte das Recht der Oberaufsicht
über die Kirchen zustehe. Die Frankfurter Kon-
stitutions-Ergänzungsakte vom 19. Juli 1816,
Art. 35 (Gesetz= und Statutensamml. f. Frank-
furt, Bd. 1, S. 51 ff.) bestimmt gleichfalls, „daß
den der Oberaufsicht des Staates untergeordnet
sind und keinen besonderen Staat im Staate
bilden dürfen“", und „daß dem Senate die Ober-
aufsicht übertragen bleibe“. Vgl. auch den Wort-
laut des durch Ges. v. 18. Juni 1875 (G. S.
259) aufgehobenen Art. 15 der preuß. Verf. Urk.
in der Fassung des Ges. v. 5. April 1873 (G. S.
143): „Die evangel. und die röm.-kathol. Kirche,
sowie jede andere Religionsgesellschaft ordnet und
verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig, bleibt
aber den Staatsgesetzen und der gesetzlich geord-
neten Aufsicht des Staates unterworfen.“
3 A. L. R., II, 11, §. 32; vgl. auch A.L. R., II,
13, §. 13, und Nr. 2 der Zusammenstellung zu
dem Patent v. 30. März 1847 (G. S. 1847,
S. 121; Hinschius, Preuß. Kirchenrecht, S. 7).
4 A. L. R., II, 11, §. 33.
5 A. a. O., S§. 161, 162.
6 Oben S. 169, Anm. 7.
Anschütz, Die Verf. Urk., Bd. I, S. 282 ff.;
Arndt, Verf. Urk.', S. 118 ff.; Hinschius,
Preuß. Kirchenrecht, S. 180.