236 Staat und Kirche. (8. 131.)
jener Zeit gegründeten zahlreichen geistlichen Genossenschaften und Niederlassungen be—
drohte an sich schon den Staat mit den Gefahren, welche in der Organisation dieser
Orden und Kongregationen und in den Zwecken liegen, welche sie verfolgen. Diese Ge—
nossenschaften standen entweder unter der direkten Leitung auswärtiger Oberer oder waren
der bischöflichen Aufsicht unterworfen. Damit war jede Garantie ausgeschlossen, daß sie
nicht zu staatsgefährlichen Zwecken und zur Förderung der staatsfeindlichen Tendenzen
des höheren katholischen Klerus benutzt wurden. Die große Mehrzahl dieser Genossen-
schaften widmete ihre Tätigkeit praktischen Zwecken, und zwar die männlichen Orden und
Kongregationen größtenteils der Aushilfe in der Seelsorge, die übrigen, sowie fast alle
weiblichen Genossenschaften teils der Krankenpflege, teils den verschiedenartigsten Unter-
richts= und Erziehungszwecken, wodurch ihnen ein bedeutender Einfluß auf die katholische
Bevölkerung ermöglicht wurde. Die Gefahren, welche die übermäßige Zahl dieser Nieder-
lassungen und Mitglieder der Genossenschaften bei dem durch das Verhalten des Epi-
skopats und der römischen Kurie immer mehr verschärften Konflikte für den Staat darbot,
führten zum Erlaß des Gesetzes v. 31. Mai 1875 betreffend die geistlichen Orden und
ordensähnlichen Kongregationen der katholischen Kirche.1 Dies Gesetz schloß alle Orden?
und ordensähnlichen Kongregationen der katholischen Kirche mit Ausnahme derjenigen,
welche sich ausschließlich der Krankenpflege widmeten, von dem Gebiete der preußischen
Monarchie aus und untersagte ihnen die Errichtung von Niederlassungen; auch die der
Krankenpflege sich widmenden Niederlassungen konnten jederzeit durch königliche Verordnung
aufgehoben werden. Die bestehenden, nicht vom Gesetze vorbehaltenen Niederlassungen
waren binnen sechs Monaten aufzulösen; der Minister der geistlichen Angelegenheiten war
jedoch ermächtigt, diese Frist für Niederlassungen, welche sich mit dem Unterricht und der
Erziehung der Jugend beschäftigten, bis auf vier Jahre zu verlängern, auch nach Ab-
lauf dieses Zeitraumes einzelnen Mitgliedern der geistlichen Genossenschaften die Be-
fugnis zur Unterrichtserteilung zu gewähren (§§. 1 u. 2). Die noch fortbestehenden
Niederlassungen wurden der Aufsicht des Staates unterworfen (§. 3). Das Vermögen
der aufgelösten Niederlassungen unterlag nicht der Einziehung durch den Staat, sondern
die Staatsbehörden sollten es nur einstweilen in Verwahrung und Verwaltung nehmen
und daraus die Mitglieder der aufgelösten Niederlassungen unterhalten werden (§. 4).
Auch dieses Gesetz hat durch die Novellen zu den kirchenpolitischen Gesetzen zahlreiche
Nr. 305, S. 5 ff.; Hinschius, Die Orden und
Kongregationen der kathol. Kirche in Preußen,
1874; Giese, Das kathol. Ordenswesen nach
dem geltenden preuß. Staatskirchenrecht (Annal. des
Deutschen Reichs, 1908, Nr. 3, 4, 5, bes. S. 179 ff.,
284 ff., 339 ff.); Ebers, Art. Orden in v. Stengel-
Fleischmanns W. St. V. R.2, Bd. III, S. 23 ff.
1 G. S. 1875, S. 217 ff.
2 Durch das Reichsges., betr. den Orden der
Gesellschaft Jesu, vom 4. Juli 1872 (R. G. Bl.
1872, S. 253) ist dieser Orden nebst den ihm
verwandten Orden und ordensähnlichen Kongre-
gationen vom Gebiet des Deutschen Reiches aus-
geschlossen und die Errichtung von Niederlassun-
gen untersagt worden (§. 1). Durch Bundes-
ratsbeschluß (Bekanntmachung des Reichskanzlers v.
5. Juli 1872) wurde den Angehörigen des Or-
dens die Ausübung einer Ordenstätigkeit, insbes.
in Kirche und Schule, sowie die Abhaltung von
Missionen, untersagt. §. 2 des Gesetzes ist durch
Reichsges. v. 8. März 1904 (R. G. Bl. 1904,
S. 139) aufgehoben worden; er bestimmte, daß
die Angehörigen dieser Orden, wenn Ausländer,
aus dem Reichsgebiet ausgewiesen, daß ihnen,
als Inländern, der Aufenthalt in bestimmten
Bezirken oder Orten versagt oder angewiesen
werden könne. Als „jesuitenverwandt“ gelten
nach den Bundesratsbeschlüssen (Bekanntmachung
des Reichskanzlers v. 20. Mai 1873 und 18. Juli
1894) die Kongregation der Lazaristen (Congre-
gatio Missionis) und die Gesellschaft vom hei-
ligen Herzen Jesu (Société du sacré ceceur de
Jésus). Giese, Ordenswesen, S. 176—179, 278
—283; Meurer, Art. Jesuitengesetz in v. Stengel-
Fleischmanns W. St. V. R.2, Bd. II, S. 472 ff.
Da Zweifel über die Bedeutung des Begriffs
der verbotenen Ordenstätigkeit im Sinne der
Bekanntmachung des Reichskanzlers v. 5. Juli 1872
(R. G. Bl. 254) entstanden waren und die königl.
bayerische Regierung eine authentische Auslegung
dieses Begriffs beantragt hatte, beschloß der Bun-
desrat laut Bekanntmachung des Reichskanzlers v.,
28. Nov. 1912 (R. G. Bl. 1912, S. 553): „Ver-
botene Ordenstätigkeit ist jede priesterliche oder
sonstige religiöse Tätigkeit gegenüber anderen, so-
wie die Erteilung von Unterricht. Unter die ver-
botene religiöse Tätigkeit fallen nicht, sofern nicht
landesrechtliche Bestimmungen entgegenstehen, das
Lesen stiller Messen, die im Rahmen eines Fa-
milienfestes sich haltende Primizfeier und das
Spenden der Sterbesakramente. Nicht untersagt
sind wissenschaftliche Vorträge, die das religiöse
Gebiet nicht berühren. Die schriftstellerische Tätig-
keit wird durch das Verbot nicht betroffen.“