Full text: Das Staatsrecht der Preußischen Monarchie. Dritter Band. Erste Abteilung. (3_1)

Notverordnungen. (§. 112.) 27 
stand dann jedenfalls dazu angetan sei, die Kammern außerordentlich zu berufen. Diese 
Rönnesche Ansicht ist unvereinbar mit dem Wortlaut des Art. 63 und würde seinen 
Inhalt fast vollständig illusorisch machen. Gewiß setzt die Anwendbarkeit des Art. 63 
ganz ausnahmsweise Umstände voraus; sind diese aber eingetreten, so unterliegt dem 
Art. 63 das Gesamtgebiet der Gesetzgebung, vorbehaltlich nur der Verfassung. Erklärt 
sich aber eine Kammer mit der Notverordnung nicht einverstanden, so muß sie nach 
Wortlaut und Sinn der Verfassung alsbald außer Kraft gesetzt werden. Darin liegt 
eine völlig ausreichende Sicherung der konstitutionellen Rechtsgrundlagen des Staates. 
3. Eine Notverordnung darf niemals erlassen werden zu einer Zeit, wo die Kam- 
mern versammelt sind, also nur in der Zwischenzeit von dem Schlusse einer Sitzungs- 
periode bis zum Beginn der nächstfolgenden. Außer dieser Begrenzung des Oktroyierungs- 
rechtes auf einen bestimmten Zeitraum tritt sodann in formeller Beziehung die weitere 
Beschränkung ein, daß die Gegenzeichnung einer Notverordnung von dem gesamten Staats- 
ministerium 2 erfolgen muß, welches hierdurch die solidarische Verantwortlichkeit für die Ver- 
fassungsmäßigkeit der Notverordnung übernimmt. 
Sind diese Voraussetzungen betreffs der Zeit und der Gegenzeichnung vorhanden, 
dann hat zwar eine dergestalt erlassene Notverordnung dieselbe rechtliche Kraft wie ein 
wirkliches Gesetz; allein in die Klasse der eigentlichen Gesetze kann sie nicht anders 
treten, als wenn sie die Genehmigung des Hauses der Abgeordneten und des Herren- 
hauses erlangt hat. Das rechtliche Verhältnis einer Notverordnung des Art. 63 zu 
einem wirklichen Gesetze (Art. 62) ist nämlich folgendes. Die Regel ist, daß alles, 
was gesetzliche Geltung haben soll, das Produkt der wirklichen übereinstimmung der 
drei Faktoren der gesetzgebenden Gewalt (Art. 62) sein muß. Unter gewissen Voraus- 
setzungen (Art. 63) soll jedoch einer der drei Faktoren — die Krone — die Zustimmung 
der beiden anderen einstweilen vermuten und daher vorwegnehmen dürfen. Auf der Ver- 
mutung, daß diese Zustimmung demnächst erfolgen werde, beruht die in Art. 63 der 
Krone bedingt gestattete Befugnis, für gewisse Bestimmungen eine provisorische Gesetzes- 
kraft vorwegzunehmen, von denen sie voraussetzen zu dürfen glaubt, daß dieselben, falls 
die Kammern versammelt wären, deren Zustimmung finden würden. Deshalb schreibt 
der Art. 63 der Verfassungsurkunde vor, „daß oktroyierte Verordnungen den Kammern bei 
ihrem nächsten Zusammentritt zur Genehmigung sofort vorzulegen sind“. 
dieser Bestimmung ist nun aber — 
Bezüglich 
  
1 Über einen Fall, wo die Notverordnung 
zwar kurz vor dem Beginne der Sitzungsperiode 
erlassen, ihre Publikation durch die G. S. aber 
erst nach Beginn der Sitzungsperiode erfolgt ist, 
vgl. die Verhandl. in der Sitz. des A. H. v. 
8. Febr. 1866 (Stenogr. Ber. 1866, S. 93—95, 
u. Anl.-Bd. 1866, S. 46, Nr. 21). 
2 In allen übrigen Fällen ist die Gegenzeich- 
nung eines Ministers hinreichend (Art. 44 der 
Verf. Urk.). Wenn der Art. 63 besagt, daß die 
darin gedachten Verordnungen nur „unter Ver- 
antwortlichkeit des gesamten Staatsministe- 
riums“ erlassen werden können, so kann auch 
die Ubernahme dieser Verantwortlichkeit nur 
durch die Gegenzeichnung sämtlicher Mitglieder 
des Staatsministeriums konstatiert werden, wie 
sich dies auch schon aus dem Art. 44 ergibt, 
welcher bei allen anderen Regierungsakten 
des Königs zur Gültigkeit derselben nur die 
Gegenzeichnung eines Ministers erfordert, „wel- 
cher dadurch die Verantwortlichkeit übernimmt". 
Bei der Beratung über die Notverordnung vom 
10. Juni 1871 (vgl. oben S. 370, Note 1) hatte 
v. Rönne darauf hingewiesen, daß dieselbe in 
ihrer äußeren Form inkorrekt sei, weil ihr die 
Mitunterschrift des Handelsministers (Gr. v. Itzen- 
plitz;) sehle (vgl. Stenogr. Ber. des A. H. 1871 
  
—72, Bd. I, S. 499). Die bei der Diskus- 
sion (a. a. O., S. 501) abgegebene Erklärung 
des genannten Ministers, daß er ungeachtet seiner 
fehlenden Unterschrift die Verantwortlichkeit mit- 
tragen wolle, vermag die fehlende Unterschrift 
nicht zu ersetzen. Daß der Art. 63 bei einer 
Notverordnung die Gegenzeichnung durch sämt- 
liche Minister verlangt, ist eine Anordnung zur 
besseren Gewähr gegen Verfassungswidrigkeit der 
Verordnung. Die Ubernahme der Gesamt- 
verantwortlichkeit kann aber nach außenhin nur 
durch die Gegenzeichnung aller verantwortlichen 
Minister konstatiert werden. (Vgl. hierüber die 
Stenogr. Ber. des A. H. 1871—772, Bd. I, S.499 
—500, 501, 506—507). A. A. ist Schwartz, 
Verf. Urk., S. 126, 208, der die Gegenzeichnung 
nur eines Ministers zwar für genügend hält, 
aber die Verantwortlichkeit aller Minister be- 
hauptet. Ebenso Arndt, Verf. Urk., S. 264; 
Glatzer, S. 46; v. Stengel, S. 174; Born- 
hak!", I, S. 544 f., hält die Gegenzeichnung auch 
nur durch einen Minister für genügend und be- 
merkt: „Irgendwelche Rechtsstreitigkeiten knüpfen 
sich an die Gegenzeichnung oder Nichtgegenzeich- 
nung durch das gesamte Staatsministerium 
nicht. Die Vorschrift ist somit eine rein instruk- 
tionelle.“
	        
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