Prüfung der Rechtsgültigkeit der Gesetze und Verordnungen. (8. 116.) 63
Aufhebung „obsolet“ werden durch gänzliche Veränderung seiner geschichtlichen Vor—
aussetzungen. Ubrigens kann jedes Gesetz in der verfassungsmäßigen Form aufgehoben
oder abgeändert werden, selbst die etwa darin enthaltene Klausel der Unabänderlichkeit
kann dem nicht entgegenstehen?; auch gilt dies nicht bloß von gewöhnlichen Gesetzen,
sondern auch von Verfassungsgesetzen. Es ist aber jedes aufhebende oder abändernde
Gesetz ein neues Gesetz und deshalb unterliegt die Aufhebung oder Abänderung von
Gesetzen denselben Beschränkungen und Formen, wie der Erlaß einer neuen Rechts-
bestimmung; dies findet auch auf die sog. authentische Interpretation Anwendung.
Obgleich nach diesen Grundsätzen jedes Gesetz an sich auf unbestimmte Zeit gilt,
sinden von dieser Regel doch Ausnahmen statt:
a) in betreff solcher Gesetze, welche nach den Grundsätzen der Verfassung nur für
eine bestimmte Zeit gültig sind, wohin namentlich das nur für ein Jahr zu erlassende
Staatshaushaltsgesetz (Art. 99 der Verfassungsurkunde) gehört;
b) bei solchen Gesetzen, für deren Wirksamkeit der Gesetzgeber selbst einen End-
termin festgesetzt hat, den sog. transitorischen Gesetzen und Verordnungen.
Was die auf Grund des Art. 63 der Verfassungsurkunde erlassenen Notverord-
nungen betrifft, so ist deren überhaupt nur provisorische Gesetzeskraft alsbald formell
durch Aufhebung der Verordnung zu beseitigen, sobald auch nur eine der beiden Kammern
die Nichtgenehmigung der betreffenden Verordnung ausgesprochen hat.
V. Sowenig ein bestehendes Gesetz anders als im Wege der Gesetzgebung auf-
gehoben werden kann, kann es in anderer Weise — sei es auch nur für eine bestimmte
Zeitdauer oder für einen bestimmten Gebietsteil — suspendiert werden. Die Sus-
pension eines gehörig verkündigten Gesetzes enthält eine Hemmung der Ausführung und
Anwendung, mithin eine einstweilige Aufhebung seiner rechtlichen Wirksamkeit; daher
müssen hierfür dieselben Grundsätze zur Anwendung kommen, welche für die Aufhebung
oder Abänderung der Gesetze überhaupt maßgebend sind.3 Allerdings gewährt die Ver-
fassungsurkunde dem Könige indirekt insofern ein weitgehendes Recht einseitiger Sus-
pension von Gesetzen, als ihm nach Art. 63 das Recht zusteht, unter Umständen „Ver-
ordnungen mit Gesetzeskraft" zu erlassen, indem sie nur die Suspendierung von Be-
stimmungen der Verfassungsurkunde selbst diesem außerordentlichen Verordnungsrechte ent-
zogen hat“, wogegen jedes andere Gesetz beim Vorhandensein der Voraussetzungen des
Art. 63 auf diesem Wege suspendiert werden kann. Es können aber sogar einzelne
Bestimmungen der Verfassung von der Staatsregierung einseitig suspendiert werden,
indem der Art. 111 der Verfassungsurkunde es gestattet, „für den Fall eines Krieges
oder Anfruhrs bei dringender Gefahr für die öffentliche Sicherheit die Art. 5, 6, 7,
28, 29, 30 und 36 der Verfassungsurkunde zeit= oder distriktsweise außer Kraft zu
setzen“, und zwar nach näherer Vorschrift des Gesetzes. Dieses Gesetz aber ist das
Gesetz v. 4. Juni 1851 über den Belagerungszustand, welches demnächst auch für die
im Jahre 1866 mit der Monarchie vereinigten Landesteile in Kraft gesetzt worden ist
1 Dahin gehört auch die Aufhebung oder wesent-
liche Umbildung eines ganzen Instituts, womit
die einzelnen Gesetze, welche das Institut be-
treffen oder seine sonstige Wesenheit voraussetzen,
fallen. Auf diese Weise sind z. B. alle über die
persönlichen Verhältnisse der Untertanen zu ihren
Herren gegebenen Gesetze durch Aufhebung der
Leibeigenschaft aufgehoben, desgl. die besonderen
Verfassungen in Ansehung der Juden durch deren
Erklärung zu Staatsbürgern (s. Reskr. v. 9. Juni
1812, v. Kamptz, Jahrb., Bd. II, S. 180). Es
ist übrigens noch darauf hinzuweisen, daß ab-
ändernde Gesetze überhaupt eine solche Aufhebung
enthalten, wenngleich die übliche Klausel: „alle
entgegenstehenden Vorschriften sind aufgehoben“
darin fehlen sollte.
2 Denn die gesetzgebende Gewalt kann sich in
materieller Hinsicht nicht selbst beschränken, und
jede für ihre Ausübung vorgeschriebene Form
kann gültig abgeändert werden, wenn es nur
in der bis dahin geltenden Form geschieht. Daher
ist eine lex in perpetuum valitura etwas
Widersinniges (vgl. Zachariä, D. St. u. B. R.,
3. Aufl., Bd. II, §. 156, S. 147). In diesem
Sinne bemerkt Niebuhr (Grundzüge für eine
Verfassung Niederlands (1813), Berlin 1852,
S. 19): „Nie hat es unveränderliche politische
Gesetze gegeben; wo man sie unverändert hat
erhalten wollen, hat man die Nation erstickt.“
3 Vgl. auch v. Schulze, Pr. St. R., Bd. II,
S. 62 f.; Bornhak ?2, I, S. 566.
4 S. hierüber oben S. 24.