82 Die Gesetzgebung. (8. 117.)
kam indes der Entwurf wegen des eingetretenen Schlusses des Landtages nicht zur Be—
ratung. Von seiten der Staatsregierung aber wurde bei der Beratung des Entwurfes
im Hause der Abgeordneten ausdrücklich erklärt, daß die Regierung vorläufig nicht be—
absichtige, den Art. 61 der Verfassungsurkunde zur Ausführung zu bringen und daher
weder die Initiative hierzu ergreifen, noch einem von dem Hause der Abgeordneten vor—
geschlagenen Gesetzentwurfe über die Ministerverantwortlichkeit die Zustimmung erteilen
werde. Inzwischen dürften die Ansichten über die Notwendigkeit, ja selbst über den Wert
eines Ministerverantwortlichkeitsgesetzes in den letzten Jahrzehnten eine nicht unwesentliche
Wandlung erfahren haben; die den Kammern als lex porfecta zu Gebote stehenden
indirekten Mittel, gegen einen Minister vorzugehen, führen rascher und sicherer zum Ziele
als eine schwerfällige Ministeranklage.?
VI. Die Verfassung des Deutschen Reiches hat ebenso wie die preußische Ver-
fassungsurkunde das Prinzip der Ministerverantwortlichkeit anerkannt, indem sie im
zweiten Satze des Art. 17 bestimmt, „daß die Anordnungen und Verfügungen des Kaisers
im Namen des Reiches erlassen werden und zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung des
Reichskanzlers bedürfen, welcher dadurch die Verantwortlichkeit übernimmt“.3 Die
penheim, Einige Betrachtungen über den Ge= gegenwärtig hervorgetretenen Kontroversen über
setzentwurf, die Ministerverantwortlichkeit betrefe die Auslegung der Verf. Urk. einem richter-
fend (in der Preuß. Gerichtsztg., Jahrg. 1861, 1 lichen Spruche nicht unterwerfen könnten“
Nr. 25, S. 98 ff.); R. E. John, Kritik des (a. a. O., S. 959). (Vgl. die hierüber abge-
preuß. Gesetzentwurfs über die Verantwortlich= gebene Erklärung des Berichterstatters, a. a. O.
keit der Minister, nebst einem Gesetzentwurfe S. 963.) Die königl. Botschaft vom 26. Mai
(Leipzig 1863), auch abgedruckt in dem Sonderheft 1863 (a. a. O., S. 1322) erklärt, „daß die Verf.
zu v. Holtzendorffs Allgem. D. Strafrechtsztg., Urk. keinen bestimmten Zeitpunkt für den Erlaß
Jahrg. 1863). Diese Schrift enthält beachtens= eines Ministerverantwortlichkeitsgesetzes vorge-
werte Erinnerungen gegen den von dem A. H. schrieben habe und daß daher die weitere Ver-
angenommenen Gesetzentwurf. tagung dieses Gesetzes keine Verfassungsverletzung
1 Vgl. die Erklärung des Ministerpräsidenten enthalte"““. — Dagegen Gneist (Verwaltung,
v. Bismarck in den Sitz. des A. H. v. 22. April Justiz, Rechtsweg, S. 189): „Der Grundsatz der
1863 (Stenogr. Ber. 1863, Bd. II, S. 952). Ministeranklagen, also der Grundsatz der recht-
Als Grund dieser Erklärung ist angeführt wor= lichen Ministerverantwortlichkeit, ist in Art. 61
den, „daß es eine notwendige Vorbedingung für der Verf. Urk. zwar ausgesprochen, jedoch von
den Erlaß des in Art. 61 der Verf. Urk. vorge= Bedingungen abhängig gemacht, welche nicht zur
sehenen Gesetzes sei, daß für die Handhabung des- Ausführung kamen. Die lex imperkecta wirkt
selben die Verf. Urk. die unbestrittene klare aber schlimmer als gar kein Gesetz; denn die tat-
und vollständige Grundlage darbiete, welche sächliche Unverantwortlichkeit neben einer grund-
Bedingung gegenwärtig nicht erfüllt sei, wo über sätzlich ausgesprochenen, rechtlich ohnmächtigen
die Bedeutung wesentlicher Teile der Verfassung Verantwortlichkeit wird nur der Titel zu noch
tiefgehende Meinungsverschiedenheiten zwischen der weiterer Ausdehnung der Ministergewalten und
Krone und dem Lande und zwischen den beiden wirkt als Abschwächung der moralischen Verant-
Häusern des Landtages zutage getreten seien, die wortlichkeit. Die Ubersetzung aus fremden Ver-
in dem gegenseitigen Vorwurfe der Verfassungs= fassungen hat den Erfolg gehabt, jede beliebige
verletzung ihren Ausdruck gefunden hätten.“ Zu= Auslegung der Verfassung zu einem ziellosen
gleich bemerkte der Ministerpräsident, „daß die Streite zwischen Ministerium und Kammern zu
Regierung die Entscheidung über die richtige Aus= machen, in welchem der eine Teil stetig zu han-
legung der streitig gewordenen Verfassungsbestim= deln, der andere Teil stetig zu protestieren hat.“
mungen nicht dem Ausspruche eines Gerichts- 2 Reichsrechtliche Bedenken stehen dem Erlaß
hofes unterwerfen und die politische Zukunft des eines Ministerverantwortlichkeitsgesetzes nicht im
Landes nicht von dem Urteilsspruche eines Rich= Weger: richtig Arndt, Verf. Urk., Anm. zu Art. 61,
ters abhängig machen dürfe, sondern daß die gegen Bornhak, I, S. 148f.
streitigen staatsrechtlichen Fragen nur im Wege Diese Bestimmung umfaßt selbstverständlich
der Gesetzgebung durch Verständigung zwischen auch die eigenen Handlungen des Reichs-
den Faktoren derselben entschieden werden könn= kanzlers, wie dies auch durch den §. 13 des
ten, bis wohin ein Ministerverantwortlichkeits= Reichsbeamtengesetzes v. 31. März 1873 (R. G.
gesetz nicht sanktioniert werden würde“. Vgl. Bl. 1873, S. 63) bestätigt wird. Dem Reichs-
die Entgegnung des Berichterstatters, Abgeordn, kanzler stehen in betreff der Verantwortlichkeit
Gneist (a. a. O., S. 958—959). Der Kultus= die auf Grund des Reichsgesetzes v. 17. März
minister v. Mühler sprach bei dieser Gelegen= 1878 (R. G. Bl. 1878, S. 7) für ihn ernannten
heit aus, „daß die Minister über die von ihnen Stellvertreter gleich, soweit jenes Gesetz reicht.
eidlich angelobte Beobachtung der Verfassung zwar Vgl. außerdem für Elsaß-Lothringen über die
vor dem Richterstuhle der Geschichte und in Zu= Verantwortlichkeit von Statthalter und Staats-
kunft vor dem höchsten Richter Rede und Ant= sekretär Laband“, II, S. 247 f., 249; G. Meyer-
wort zu geben hätten; sich aber in betreff der Anschütz, §. 139, S. 476 ff.