Full text: Das Staatsrecht der Preußischen Monarchie. Dritter Band. Erste Abteilung. (3_1)

Die besonderen Garantien der Verfassung. (§. 117.) 87 
das Recht, eine Abänderung der Verfassung in Vorschlag zu bringen (das Recht der 
Initiative hinsichtlich der Verfassungsänderungen), da die Verfassungsurkunde (Art. 64) 
keine Beschränkungen in dieser Beziehung aufgestellt hat, sowohl dem Könige als jeder der 
beiden Kammern zu. 
II. Obwohl, wie bereits bemerkt, die Abänderung der Verfassung keineswegs gänz- 
lich ausgeschlossen sein darf, ist doch andererseits nicht zu verkennen, daß der staats- 
grundgesetzliche Zustand, welcher die feste Grundlage und Garantie für alle anderen 
gesellschaftlichen Verhältnisse und einen Schirm gegen Willkür bilden soll, im höchsten 
Grade gefährdet wird, wenn es statthaft ist, die Verfassung allzu leicht und häufig 
zu ändern. Deshalb muß der Gedanke der Stetigkeit des Staatsgrundgesetzes davon 
zurückhalten, Veränderungen desselben vorzunehmen, die keine wesentlichen Verbesserungen 
sind, um so mehr, als oft scheinbare Verbesserungen des Einzelnen in der Tat Ver- 
schlechterungen sein können im Zusammenhange mit dem Ganzen.? Deshalb recht- 
fertigt es sich von selbst, wenn die meisten Verfassungen Bestimmungen ausfgenommen 
haben, welche bezwecken, einer leichtsinnigen Abänderung vorzubeugen, indem sie er- 
schwerende Formen für das Zustandekommen jener Abänderung festsetzen. Die 
preußische Verfassungsurkunde enthält in dieser Beziehung (Art. 107) die Vorschrift, 
daß zwar zu der auf dem ordentlichen Wege der Gesetzgebung zulässigen Abänderung 
der Verfassung in jeder Kammer die gewöhnliche absolute Stimmenmehrheit" genügt, daß 
  
Fällen gestatten, Rechte zu verletzen, wo die 
Not dies gebieterisch erheischt, aber nie kann die 
Not gebieterisch erfordern, das Unrecht formell 
an die Stelle des Rechtes zu setzen. Die Aus- 
übung jenes äußersten Rechtes der Staatsgewalt 
kann stets nur eine auf dem Prinzip der Selbst- 
erhaltung beruhende Maßregel der Verwaltung 
sein, darf aber nie dazu gebraucht werden, um 
etwas, was seiner Natur nach einer rechtlichen 
Feststellung bedarf, mit Umgehung des gesetzlichen 
oder verfassungsmäßigen Weges zu verwirklichen 
und ins Leben zu rufen (vgl. Zachariä, D. 
St. u. B. R., 2. Aufl., Bd. I, §. 54, S. 260, 
und die dort mitgeteilte Stelle aus Moser, 
Von der Reichsstände Landen, S. 1187 ff., ferner 
3. Aufl., Bd. I, §. 54, S. 295, und RBd. II, 
§. 152, S. 125—126; desgl. Bluntschli, Allgem. 
St. R., 1. Aufl., S. 418, und 2. Aufl., Bd. II, 
S. 113—114, wo die betr. Ansicht etwas modi- 
fiziert wird). — Die Ausführungen in dem Auf- 
satze „Studien über das Pr. St. R.“ in Aegidis 
Zeitschr. f. D. St. R., Bd. I, S. 184 ff., wonach 
es rechtlich zulässig sein soll, die Verfassung ein- 
fach durch eine (selbst ohne ministerielle Gegen- 
zeichnung erlassene) königl. Verordnung abzuän- 
dern und sogar aufzuheben, beruhen auf willkür- 
licher und sophistischer Auslegung der Verf. Urk. 
(insbes. des Art. 106) und haben ihre Wider- 
legung gefunden in der dagegen gerichteten Ab- 
handl. von R. John (a. a. O., S. 244 ff.) und 
in v. Rönnes Abhandl. über das richterliche 
Prüfungsrecht usw., a. a. O., S. 385 ff. 
1 Einige deutsche Verfassungsgesetze legen in 
bezug auf Verfassungsänderungen nur dem Re- 
genten das Recht der Initiative bei oder enthalten 
doch bestimmte Beschränkungen des Rechtes der 
Volksvertretung in dieser Hinsicht (vgl. z. B. 
Bayer. Verfassungsges. v. 4. Juni 1848, Art. II 
u. IV). Vgl. v. Seydel-Piloty, Bayer. St. 
R.s, 1913, Bd. I, S. 225 f.; Göz, Württemb. 
St. R., 1908, S. 142. 
2 Schon die Meister alter Gesetzgebung haben 
einem übereilten Verändern der Verfassung die 
  
  
  
warnendsten Drohungen entgegengestellt. Die von 
Zeleukus den Lokriern gegebene Verfassung ver- 
ordnete, daß, wer den Vorschlag zu einer Ab- 
änderung derselben machen wolle, mit dem Halse 
in der Schlinge auftreten und erdrosselt werden 
solle, wenn die Volksversammlung seinen Vor- 
schlag zurückweise. Indem Zeleukus diese drohende 
Verwarnung einem nicht genügend vorbereiteten, 
übereilten Antasten der Verfassung entgegenstellte, 
ging er von der Uberzeugung aus, daß die Not- 
wendigkeit wahrhaft zweckmäßiger Neformen sich 
mit dem Fortgange der Zeit so dringend her- 
ausstellen müsse, daß der Patriotismus das ge- 
fährliche Wagspiel zwischen schimpflicher Strafe 
und dem Verdienste, eine zeitgemäße Reform 
veranlaßt zu haben, nicht verschmähen werde 
(vgl. die Rede des Abgeordn. Riedel in den 
Stenogr. Ber. der 2. K. 1849— 50, Bd. II, 
S. 611). Vgl. über die Frage der Zweckmäßig- 
keit erschwerender Bestimmungen über die Ab- 
änderung einer Verfassung: Stahl, Philosophie 
des Rechts, 3. Aufl., Bd. II, Abt. 2, §. 85, 
S. 288 ff. 
* Erschwerende Formen für Verfassungsab- 
änderungen schreiben z. B. vor die württemb. 
Verf. Urk. von 1819, §. 176 (s. Göz, Württemb. 
St. R., S. 142), die bayerische Verf. Urk. von 
1818, Tit. X, §.7 (s. v. Seydel-Pilotys, . a. O., 
Bd. 1, S. 313 ff., 848 ff.), die hessen = darmstädt. 
Verf. Urk. von 1820, §. 110, die kurhessische von 
1831, §. 153, die königl. sächs. Verf. Urk. von 1831, 
§. 152, das hannöversche Landes-Verf.-Gesetz 
von 1840, §. 180 (aufgehoben durch Gesetz v. 
10. April 1848), die luxemburg. Verf. Urk. von 
1841 am Schluß, die schwarzb.-sondershaus. Verf. 
Urk. von 1849, §. 106, die oldenburg. Verf. 
Urk. von 1852, Art. 212. 
4 Es muß also eine Stimme mehr als die 
Hälfte der an dem Beschlusse teilnehmenden 
Mitglieder sich für die Abänderung erklärt haben. 
Außerdem versteht sich von selbst, daß jedes der 
beiden Häuser in beschlußfähiger Anzahl 
versammelt gewesen sein muß. 
 
	        
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