Uußland. 251
Verschiedenheit der Auffassungen liegt in der Thatsache, daß die englische Re-
gierung zu glauben scheint, die Verfassung von 1815 sei das einzige Heil-
mittel, geeignet zur Beruhigung der gegenwärtigen Aufregung Polens. Aber
die britische Regierung und Nation, deren praktischer Sinn die Größe Eng-
lands geschaffen, werden nicht behaupten können, daß es eine einzig mögliche
Form der Regierung für alle Völker gebe, welches auch ihre Geschichte und
ihre Entwickelung sein mögen. Vor Erreichung der politischen Reife, von
welcher England ein Beispiel bietet, sind noch viele Stufen zurückzulegen und
eine jede Nation hat nach ihren eigenen Instincten in dieser Bahn voranzu-
schreiten. Gerecht und natürlich ist, daß ein von den wohlwollendsten Ab-
sichten erfüllter Souverän die Tragweite und Ausdehnung der Institutionen
berechne, die bestimmt sind, seine Unterthanen in die günstigsten Bedingungen
der Existenz zu versetzen. Der Gedanke unseres erhabenen Herrn hat sich so-
sort bei seiner Thronbesteigung kund gethan und kann von Niemanden in
Europa verkannt werden. Se. Maj. hat die Bahn der Resormen mit Ent-
schlossenheit betreten. Auf das Vertrauen und die Hingebung seines Volkes
sich stützend, hat Se. Maj. binnen wenig Jahren eine sociale Umgestaltung
unternommen und durchgeführt, welche andere Staaten nur in einem langen
Zeitraume und unter großen Anstrengungen zu verwirklichen vermochten.
Seine Obsorge ist dabei nicht stehen geblieben und das System einer stufen-
weisen Entwickelung ist auf alle Zweige des öffentlichen Dienstes und auf die
bestehenden Einrichtungen angewendet worden. Es erschließt für Rußland
den Weg eines regelmäßigen Fortschrittes. Der Kaiser verharrt auf demselben
ohne Ueberstürzung, ohne sich hinreißen zu lassen, mit sorgfältiger Berücksich-
tigung der Elemente, welche die Zeit zur Reife zu bringen hat, aber auch
ohne jemals von dem Wege abzuweichen, den er sich vorgezeichnet. Dieses
Verfahren hat ihm die Dankbarkeit und die Liebe seiner Unterthanen -gewonnen.
Uns dünkt, es verleihe ihm auch Ansprüche auf die Sympathien Europas.
Die gleichen Absichten haben nicht aufgehört, Se. Maj. zu erfüllen, sobald
Ihre Obsorge sich dem Königreiche Polen zuzuwenden vermochte. Wir werden
hier nicht in eine Aufzählung der nationalen, meist electiven Einrich-
tungen eingehen, mit welchen dieses Land ausgestattet ist. Dieselben scheinen in
Europa nicht hinreichend verstanden worden zu sein, sei es wegen der Entfernung,
sei es vielmehr, weil sich einer gerechten und unparteiischen Beurtheilung chimärische
Leidenschaften und die selbstsüchtige Thätigkeit einer feindseligen Partei in den Weg
stellten. Das von unserem erhabenen Herrn inaugurirte System enthält einen
Keim, den Zeit und Erfahrung zur Reife bringen müssen. Er ist bestimmt, sich
zu einer administrativen. Autonomie auf der Grundlage der provinciellen
und municipalen Einrichtungen zu entwickeln, die in England der Ausgangspunkt
und die Grundlage der Größe und Blüthe des Landes gewesen sind. Allein
bei der Ausführung dieses Gedankens stieß der Kaiser auf Schwierigkeiten, welche
vorzugsweise in den Aufreizungen der Partei der Unordnung bestehen.
Diese Partei hat begriffen, daß, wenn sie der friedlichen Mehrheit des König-
reichs gestatte, in diese Bahn regelmäßigen Fortschrittes einzulenken, ihre Be-
strebungen vereitelt sein würden. Diese Umtriebe gestatteten nicht die Ver-
wirklichung der neuen Institutionen. Es war unmöglich, zu constatiren, wie
sie sich bewähren, inwieweit sie den wahrhaften Bedürfnissen und dem Grade
der Reife des Landes entsprechen. Erst nachdem diese Erfahrung gemacht ist,
wird man ein Urtheil über dieses Maß fällen und dasselbe vervollständigen
können. Das Manifest vom 1. (13.) April deutet in dieser Hinsicht die Absichten
unseres erhabenen Herrn an. Neben einem Acte der Gnade, welcher seit dem
Verschwinden der wichtigsten bewaffneten Banden eine große Ausdehnung er-
halten konnte, hielt der Kaiser die bereits verliehenen Institutionen austechr
und erklärte, er behalte sich vor, ihnen die von der Zeit und den Bedürf-
nissen des Landes geforderten Entwickelungen zu verleihen.
„Se. Majestät kann sich daher bezüglich der Vergangenheit auf die Reinheit