Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neunter Jahrgang. 1868. (9)

538 
Zollpar- 
lament. 
Preußen. 
Uebersicht der Ercignisse des Jahres 1869. 
nehmigung des Antrags, da die genannte Fraction sogar mit ihrem ecla- 
tanten Austritt gedroht hatte, und ging am 7. Mai zur einfachen 
Tagesordnung über, nahm sich aber am 18. d. M. gelegentlich einer 
unbedachten Aeußerung eines Mitgliedes jener Fraction durch eine 
Debatte, die die Fraction deckte, und eine Abstimmung, die sie ganz 
vereinzelt hinstellte, obwohl sie weiter keine Folge hatte, nicht minder 
entschiedene Genugthuung. Das Zollparlament genehmigte den mit 
Oesterreich abgeschlossenen Handelsvertrag, der einen sehr wesentlichen 
Fortschritt auf der Bahn des Freihandelsprincips in sich schloß und 
ein Gesetz zu Besteuerung des Tabaks; dagegen scheiterte das wich- 
tigste Tractandum, die Reform des Zolltarifs, indem die geforderte 
Besteuerung des Petroleums, welche die anderseitigen Ausfälle mehr 
als aufgewogen hätte, am 20. Mai mit 190 gegen 90 Stimmen 
abgelehnt wurde und später nochmals mit 149 gegen 86 Stimmen, 
worauf Graf Bismarck die Vorlage zurückzog. Die Frage wurde 
damals noch nicht in ihrer ganzen Tragweite erkannt. Sie hängt 
eng mit einem nicht unerheblichen Deficit in den preußischen Finan- 
zen, das erst etwas später zu Tage kam, und mit dem ganzen 
Steuersystem in Preußen und dem nordd. Bunde zusammen und 
hat seither (1869) zu einer Krisis geführt, deren schließlicher Aus- 
gang noch nicht mit Sicherheit abzusehen ist. 
Wenn man unbefangen sein will, so wird man kaum umhin 
können, zuzugestehen, daß der nordd. Bund in befriedigender Con- 
solidation begriffen ist. Von Ueberstürzung ist allerdings keine Rede; 
seine Fortschritte sind langsame aber stätige und gewähren wenigstens 
den mächtigen Vortheil, daß sie keinerlei Rückschritte und keine Um- 
schläge in Aussicht stellen. Die Stellung des Reichstags gegenüber 
der preußischen Regierung oder dem Bundesrathe ist im Ganzen 
eine würdige und sein Einfluß unzweifelhaft im Wachsen begriffen. 
Die Macht der Regierungsgewalt ist allerdings unläugbar eine große 
und zur Zeit noch immer überwiegend; aber an sich ist das noch kein 
Unglück: ohne eine starke Regierung ist ein starkes Parlament kaum 
denkbar, jedenfalls nicht jene stätige, selbstbewußte Entwickelung, wie 
sie im Interesse des werdenden Deutschlands liegt. Die Schwäche 
des nordd. Bundes liegt in der noch sehr unklaren Stellung der 
preußischen Regierung innerhalb des Bundesraths und gegenüber 
der Vertretung der Nation und noch mehr in den inneren Zuständen