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Uebersicht der Ereignisse des Jahres 1868.
Nom. ist das ein zusammenhängendes System, das freilich niemals und
nirgends praktisch vollständig durchgeführt werden konnte; so weit
und wo es dies wurde, sind seit drei Jahrhunderten in dasselbe
viele Lücken gerissen worden: nachgerade ist das ganze System prak-
tisch unhaltbar geworden. Aber in der Theorie besteht es in aller
Ausbildung und voller Schärfe noch immer aufrecht: praktisch hat
Rom auf zahlreichen Punkten zahlreiche Concessionen gemacht, prin-
cipiell auch nicht eine einzige. Diesem System nun steht mehr und
mehr die ganze moderne Welt gegenüber und zwar dem System
selber, nicht etwa bloß seinen Trägern, dem Clerus und dessen all-
fälligen Ausschreitungen; ja sie geht in immer größeren Kreisen
darüber weit hinaus, indem sie den Grund selber, aus dem jenes
System und jene Ansprüche erwachsen sind, ihrer stets schärferen,
stets umfassenderen Kritik unterzieht. Die Trennung des Staats
von der Kirche ist schon sehr weit gediehen, wenn sie auch noch fast
nirgends principiell ausgesprochen und noch weniger — Nordamerika
allein ausgenommen — vollständig durchgeführt worden ist. Allein
bereits anerkennen fast alle Verfassungen Europa's das Princip der
Gleichberechtigung der verschiedenen christlichen Confessionen, was zu
jenem System in diametralem Gegensatze steht, und fast alle auch das
andere Princip der Unabhängigkeit der staatsbürgerlichen Rechte nicht
bloß von der Confession, sondern von der Religion überhaupt, also vom
Christenthum selber. Das ganze moderne Leben, Staat und Wissen-
schaft sind von christlichen Ideen durchtränkt, aber für das Christen-
thum als dem geschlossenen dogmatischen System dieser oder jener Con-
fession verliert die moderne Welt ganz unläugbar von Tage zu Tage
mehr alles und jedes Verständniß, wagt es dagegen gleichfalls in
von Tage zu Tage steigendem Maße, eben jene Systeme ihrer nur
zu oft geradezu zersetzenden Kritik zu unterziehen. Wenn man nur
auf die letzten hundert Jahre zurückblickt, so findet man einen leb-
haften Wechsel zwischen Action und Reaction von Seite der beiden
Strömungen, indem die kirchliche Strömung, wiederholt zurückge-
worfen, auch wiederholt sich wieder aufraffte und neue Erfolge, neue
Triumphe errang. Aber auch die andere, weltliche oder staatliche
Strömung raffte sich ihrerseits jedesmal wieder auf und errang auch
ihrerseits wieder Erfolge, und wenn man das Facit zieht, so ist es
nicht die kirchliche, sondern die weltliche Strömung, welche schließlich