Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neunter Jahrgang. 1868. (9)

Uebersicht der Ereignisse des Jahres 1866. 
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mehr gewonnen hat. Rom namentlich hat in den letzten zehn Jahren Rom. 
furchtbare Verluste erlitten. Sobald Italien sich als einheitliches 
Königreich gestaltet hatte, entzog es sich als Staat der Bevormun- 
dung Roms, entriß ihm den größeren Theil seines weltlichen Be- 
sites und bedroht es fort und fort auch in dem letzten armseligen 
Reste desselben, gegen welche Gefahr Nom nur durch Frankreich ge- 
schützt ward, das ihm seinerseits wiederum diesen Schutz nicht als 
gehorsamer Sohn der Kirche, sondern lediglich aus politischen Mo- 
tiven und von politischen Interessen geleitet angedeihen ließ, also 
nur einen überaus precären Schutz, auf den sich Rom keinen Augen- 
blick verlassen kann. Den größeren Theil der germanischen Welt 
hatte schon die Reformation Rom entrissen, doch blieb ihm dort als 
feste Stütze noch Oesterreich, das wenigstens in Deutschland gegen- 
über dem Protestantismus das Gleichgewicht für Nom aufrecht hielt 
und in neuerer Zeit glaubte Rom durch das Concordat von 1855 
Oesterreich noch fester an sich gefesselt zu haben. Das Jahr 1868 
entriß ihm durch die thatsächliche Beseitigung des Concordats, wo- 
durch selbst Oesterreich entschieden in die Reihe der modernen Staaten 
eintrat, auch dieses und dieser Verlust war um so bitterer, als 
Oesterreich in Wahrheit der letzte Staat gewesen war, auf den Nom 
sich hatte verlassen können und der überall für eine politische An- 
schauung und für politische Interessen eingetreten war, wie sie mit 
der Anschauung und den Interessen Noms wesentlich Hand in Hand 
gingen. Rom sah sich plötzlich von allen Seiten verlassen und in 
den sämmtlichen Regierungen Europa's, was seine Ansprüche gegen- 
über dem Staate betrifft, überall theils von unzweideutigen Gegnern, 
theils von mehr als zweideutigen Freunden umgeben. Die ganze 
moderne Entwickelung der Gesellschaft, des Staats, der Wissenschaft 
stand ihm entgegen und dem weiteren Fortgang eben dieser Ent- 
wickelung war offenbar gar kein Ende abzusehen. Die Frage der 
weltlichen Herrschaft des Papsts, die in den letzten Jahren so viel 
Lärm und der Curie so viel Sorge gemacht hatte, war von diesem 
Standpunkte aus nur ein einzelnes Moment in einem großen Zu- 
sammenhange, der als solcher ins Auge gefaßt und dem als solchem 
begegnet werden mußte, wenn auch jenes einzelne Moment gerettet 
werden sollte. Papst Pius IX. hatte sich daher schon seit Antritt 
seines Pontificats in seinen verschiedenen Encycliken und Allocutionen