Das deutsche Reich und seine einzelnen Elieder. 211
während der nächsten Jahre auf die besondern Verhältnisse Elsaß-Lothringens
Rücksicht genommen werden. Endlich werden das preußische Gesetz über Unter-
stützung der bedürftigen Familien zum Dienste untauglicher Reservisten und
Landwehrmänner und das Reichsgesetz wegen Unterstützung der bedürftigen
Familien zum Dienste untauglicher Mannschaften der Ersatzreserve eingeführt.
14. Oct. (Deutsches Reich.) Bundesrath: Der Reichskanzler beantragt,
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dem Gotthard-Unternehmen von Seite des Reichs die Gesammtsumme
von 20 Mill. Fr. als fonds perdus zuzuwenden, womit das groß-
artige Unternehmen definitiv gesichert würde.
„ (Bayern.) II. Kammer: Der Cultusminister v. Lutz beantwortet
die Interpellation Herz vom 5. d. M.
Die Antwort ist so einlaßlich und so umfangreich, daß hier nur der Ge-
dankengang angedeutet und der Schluß wörtlich mitgetheilt werden kann.
uDer eine Gesichtspunkt, welcher einer nochmaligen eingehenden Besprechung
bedarf, betrifft die Frage: ob wirklich der Lehrbegriff der katholischen Kirche
durch die Definition des Dogmas von der Infallibilität des Papstes eine
Aenderung erlitten hat, wie in dem Cultusministerial-Erlaß vom 27. August
d. J. behauptet worden ist, oder nicht... Aus dem Bisherigen ergibt sich,
daß die Cardinalfrage nicht darin liegt, ob wirklich der Glaubenssatz von der
päpstlichen Infallibilität eine Neuerung enthält, sondern darin, ob die Concils-
beschlüsse vom 18. Juli 1870 staatsgefährlich sind, oder nicht. Schon die Be-
jahung der letzten Frage bildet eine genügende Unterlage für die in dem
Ministerialerlaß vom 27. August gezogenen Folgerungen. Von einem Aufbau
desselben auf morscher Grundlage könnte man somit selbst dann nicht sprechen,
wenn die Unfehlbarkeit des Papstes auch früher schon gelehrt und geglaubt
worden wäre.. In dem Ministerialerlaß vom 27. August ist die nähere
Bezeichnung der in Gefahr stehenden Fundamentalsätze des bayrischen Staats-
rechtes vermißt worden. In der That enthält weder dieser Erlaß, noch die
frühere Entschließung in der Mering'schen Kirchenangelegenheit, noch die an
Se. Exc. den Hrn. Erzbischof von Bamberg wegen Verweigerung des Placet
ergangene Entschließung Einzelheiten über diesen Punkt. Das Fehlende soll
hier nachgetragen werden. Das Dogma von der päpstlichen Infallibilität er-
streckt sich nur auf das Gebiet des Glaubens und der Sitten, und alle kirch-
lichen Autoritäten werden nicht müde zu versichern, daß diese beiden Gebiete
unzweifelhaft der Kirche gehörten, und daß über dieses Bereich hinaus niemals
eine Anwendung von dem infalliblen Lehramte werde gemacht werden. In der
That, die Fassung der betreffenden Constitution präsentirt sich harmlos und
der oben erwähnten Intention entsprechend. Wären die früheren päpstlichen
Erlasse nicht, wie die Bulle Unam sanctam und andere, wären die Doctrinen
nicht so vielfach ventilirt und so ernstlich vertreten worden die in jenen Bullen
ausgesprochen worden sind, gäbe es keine Encyclica, wäre der Syllabus nicht,
wäre das Gebiet der Sitten nicht mindestens gemeinschaftliches Territorium für
Staat und Kirche, umfaßte dasselbe nicht das ganze staatliche und gesellschaft-
liche Leben, alle Beziehungen der Menschen zu einander, insoferne sie eine sitt-
liche Beziehung haben, man dürfte mit billigem Erstaunen fragen: wie die
Staaten auf den Gedanken verfallen konnten an der constitutio dogmatica
Anstoß zu nehmen, nachdem es ihre Sache nicht ist, Glaubensbekenntnisse fest-
zustellen und zu corrigiren. Da aber alle diese Dinge bestehen, und dadurch
den Regierungen mehr als eine bloße Möglichkeit, ja sogar mehr als die
dringendste Wahrscheinlichkeit nahe gelegt ist, daß die Kirche die Absicht hegt,
mit Hilfe des neuen Dogmas die fast entschwundene Herrschaft über die Könige
und ihre Staaten wieder zu erringen, so wäre es eine Thorheit die constitutio
lediglich als innerkirchliche Angelegenheit zu betrachten und zu behandeln.
Solche inhaltschwere Sätze bedürfen, wir fühlen es, des Beweises. Ein guter
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