Full text: Europäischer Geschichtskalender. Dreizehnter Jahrgang. 1872. (13)

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DHas deutsche Reich und seine einzelnen ölieder. 
endlich die Widerstandskraft, die sie befähigt, ein Schutz der Selbstverwaltung 
zu sein. Nur solche Körper, die eine compacte Masse repräsentiren, tragen die 
Garantie in sich, daß sie nicht wieder vom Staat unterjocht werden. Freilich ist 
ein Theil der Staatsgemeinde wohl geeignet auch selbstständig einen solchen 
Körper zu bilden, doch sind andererseits die Städte durchaus nothwendig zur 
Mitwirkung bei den Geschäften des Kreises. Ohne sie würden zeitweise die 
zur Verwaltung erforderlichen Organe nicht zu schaffen sein. Die Exemtion 
derselben von den Kreisverbänden wäre endlich eine Schädigung dieser selbst. 
Ist die Mannichfaltigkeit des Charakters der Gemeinden ein Grund, sie nicht 
unmittelbar dem Staat unterzuordnen, so ist diese ihre Eigenschaft in den 
engern Gränzen des Kreises eine Quelle reichen Lebens in diesem. Es ist aber 
gegen das vorliegende Gesetz bezüglich dieser Frage eingewendet worden, daß 
man den Bau, statt von unten auf anzufangen, mit der Mitte begonnen. 
Das Bild trifft, wie so oft, nicht völlig zu. Es trägt den Stempel des 
Mechanischen, während das Werk, welches wir errichten, organisches Gepräge 
hat. Dasselbe gleicht vielmehr einem Baum, seine Wurzeln ruhen verborgen 
in der Erde, in den Gemeinden, seine Krone strebt nach oben, dem Provincial= 
verbande zu. Und damit der Baum gesunde, müssen wir die Qutrlle seiner 
Nahrung, die Erde, fruchtbar machen, das heißt die Gemeinden reformiren. 
Wir müssen die Landgemeinden emancipiren von der gutsherrlichen und der 
Erbpolizeigewalt — Einrichtungen, die aus der Erbunterthänigkeit hervorge- 
gangen waren und mit ihr hätten fallen müssen. Heute find solche Institu- 
tionen veraltet. Diesen gerechten Forderungen der Zeit trägt das neue Gesetz 
Rechnung, ebenso wie es die völlige Freiheit der Beamten in der Gemeinde- 
verwaltung festsetzt. Zwischen Kreis und Gemeinde stellt der Entwurf den 
Amtsbezirk. Schon jetzt bestehen solche Gemeinschaften mehrerer Gemeinden 
zu bestimmten Zwecken. Das Bedürrfniß hat sie zusammengeführt. Diesen 
Erscheinungen gibt das Gesetz legale und organische Form. Die Vertretung 
des Kreises nach der Vorlage ist für die Conservativen ein Anlaß geworden, 
dieselbe anzugreifen. Meiner Ansicht nach ist der Kreistag in seiner Zusammen- 
setzung nach dem neuen Gesetz durchaus conservativ. Man hat nicht die Be- 
völkerung zusammengeworfen und die Wahl lediglich von der Anzahl der 
Köpfe abhängig gemacht; man hat dieselbe vielmehr an Gruppen angeschlessen, 
wie sie sich geschichtlich und wirthschaftlich gebildet haben. Nach Stadt und 
Land nach Groß= und Kleinwirthschaft ist geschieden und das Recht bemessen 
worden, den Kreiétag zu beschicken. Wenn ich das als etwas revolutionäres 
schildern höre, so muß ich offen gestehen, daß mir der Begriff dessen, was 
eahistorisch" heißt, fehlt. Die Ritterschaft hatte einen Sinn, solange Ritter 
existirten. Heut ist es geradezu eine Lächerlichkeit, sich Ritter zu nennen. Die 
Auffassung der Jetztzeit gemäß solchen Anschauungen gibt allein ein Zerrbild. 
Ordnen wir daher die Verhältnisse des Kreises auf der Grundlage, wie sie 
heute gegeben ist. Eine neue Behörde ist durch den Entwurf noch instituirt 
worden, der Kreisausschuß. Es ist dieses Institut jedoch auch nur scheinbar 
eine Neuerung, da es sich an die bis jetzt bestehenden Kreiscommissionen an- 
lehnt und dieselben nur auf legaler Grundlage fortsetzt. Der wichtigste Punkt, 
ja der Inhalt des ganzen Gesetzes ist die Institution der Selbstverwaltung, 
als der Grundlage, auf welcher die Kreisverwaltung erbaut ist. Zuerst muß 
ich es zurückweisen, als ob die Lösung der Frage der Selbstverwaltung, wie 
sie der Entwurf gibt, irgendwelchen Bezug habe zu der Frage der Centrali= 
sation und Decentralisation. Weder nach der einen noch nach der andern 
Seite zielt der Entwurf, er fügt allein den auf Selbstverwaltung beruhenden 
Kreisverband als organisches Glied in das Gefüge des Staatsbaues ein. An 
dieser Stelle stellt sich die Frage vielmehr folgendermaßen: „Wieweit sind 
bei der Institution der Selbstverwaltung für den Kreis die Rechte des Staats, 
wieweit die Rechte des Kreises ausgedehnt, resp. beschränkt?!“ Die statutarische 
Regelung ihrer Verhältnisse hat die Vorlage dem Kreis überlassen, wo jedoch
	        
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