154 Das deutsche Reivh und seine einzelnen Glieder. (Dezbr. 1.)
Wir bereuen die von Uns gebrachten Opfer nicht. Wir haben die dadurch
geschaffenen Rechte und Prärogative des Reichstags stets unverbrüchlich ge-
achtet und Unsere gegen das Reich übernommenen Pflichten jederzeit bereit-
willig erfüllt, auch den Frieden des Reichs mit Erfolg gewahrt und seine
Wohlfahrt nach Kräften gefördert. Aber mit gleicher Gewissenhaftigkeit sind
Wir auch entschlossen, die Rechte Unserer angestammten Krone so, wie sie
nach den Bundesverträgen zweifellos in Geltung stehen, nicht minder wie
die eines Jeden Unserer Bundesgenossen, unverdunkelt und unvermindert zu
erhalten und sie zu schützen.
Die in der gedachten Interpellation vertretene Rechtsauffassung findet
in keiner Bestimmung der Bundesverträge, der Verfassung oder der Gesetze
des Reichs einen Anhalt. Es gibt keine Reichsregierung, welche berufen
wäre, unter der Kontrolle des Reichstags, wie sie durch jene Interpellation
versucht wird, die Aufsicht über die Handhabung der Landeshoheitsrechte der
einzelnen Bundesstaaten zu führen, soweit das Recht dazu nicht ausdrücklich
dem Reiche übertragen worden ist. Wir dürfen das Zeugnis der durch Uns
und Unsere Bundesgenossen geeinigten Nation dafür anrufen, daß die ver-
fassungsmäßigen Rechte der Volksvertretung von Uns und von den ver-
bündeten Regierungen jederzeit sorgfältig geachtet worden sind; aber wir
dürfen auch erwarten, daß der Reichstag mit gleicher Gewissenhaftigkeit die
Rechte eines Jeden der verbündeten Fürsten und Freien Städte achten werde.
Auf dieser Gegenseitigkeit beruht das Vertrauen, welches die deutschen
Stämme und ihre Fürsten und Obrigkeiten der Reichsverfassung entgegen-
bringen. Es ist Unser ernstes Bemühen, dieses Vertrauen allerseits un-
geschwächt zu erhalten, und deshalb fühlen Wir Uns bewogen, dem Reichs-
tage Unsere Überzeugung kund zu thun, daß die Rechtsauffassung, zu welcher
die Mehrzahl der anwesenden Abgeordneten durch ihre Unterstützung der ge-
dachten Interpellation sich bekannt hat, im Widerspruch mit dem deutschen
Verfassungsrechte steht, und daß Wir etwaigen Versuchen einer Bethätigung
derselben nicht nur Unsere Mitwirkung versagen, sondern denselben gegenüber
die Rechte einer jeden der verbündeten Regierungen nach Maßgabe des Bundes-
vertrags vertreten und schützen werden.
Gegeben Berlin, den 30. November 1885.
(gez.) Wilhelm. (gegengez.) von Bismarck.
„Ich habe dieser Verlesung auf Befehl meines Herrn, des Königs von
Preußen, auch in meiner Eigenschaft als Bevollmächtigter Preußens eine
Verwahrung des Rechts Sr. Majestät hinzuzufügen, in Seinen Staaten und
insbesondere in deren Grenzprovinzen die deutsche Nationalität in ihrem Be-
stande und in ihrer Entwickelung vor jeder Beeinträchtigung durch fremd-
ländische Elemente, und namentlich vor der weiteren Ausbreitung der seit
Jahrzehnten dort im Gange befindlichen Polonisierung deutscher Volksstämme
zu schützen.
Das einen Ausfluß der Landeshoheit bildende Recht, diesen Schutz
in seinen Staaten zu üben, ist eines der Rechte, zu deren Schutz der Bundes-
vertrag, welcher die Grundlage unserer Reichsverfassung bildet, geschlossen
ist. Es heißt in der Einleitung des Vertrages, daß Se. Majestät der König
von Preußen und die anderen Monarchen einen Bund schließen „zum Schutze
des Bundesgebiets und des innerhalb desselben giltigen Rechts“. Zu diesem
giltigen Recht gehört das Hoheitsrecht des Königs von Preußen, welches ich
vorhin bezeichnete. Der König von Preußen hätte daher einen Anspruch
auf den Schutz des Reichs in der Ausübung dieses Rechts, wenn ihm das-
selbe vom Auslande her bestritten würde. Das Ausland aber bestreitet dieses
Recht in keiner Weise, sondern hat sich in wohlwollend nachbarlicher Freund-