Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Zweiter Jahrgang. 1886. (27)

XIV. 
Rußland. 
Erste Hälfte Januar. (Ostseeprovinzen.) Die Kommission 
zur Prüfung der Verhältnisse in den Ostseeprovinzen beschließt fol- 
gende nicht im Wege der Gesetzgebung auszuführende, sondern den 
Ressortchefs konfidentiell zur Nachachtung mitzuteilende Maßnahmen: 
Die Akten der Kriminalprozesse können deutsch geführt werden, doch 
muß das dem Gouverneur zur Bestätigung vorgelegte Urteil russisch abgefaßt 
sein. Den bäuerlichen Gerichten ist der Gebrauch der russischen, esthnischen 
und lettischen, aber nicht der deutschen Geschäftssprache gestattet. Die luthe- 
rischen Konsistorien haben mit Regierungsbehörden russisch zu verkehren. Die 
Dorpater Universität hat ihre Diplome, ausgenommen die Magister= und 
Doktordiplome, deren Originale lateinisch abgesaßt werden, nur in rufsischer 
Sprache auszufertigen. Die Kirchenbücher der protestantischen Gemeinden 
müssen in russischer Sprache geführt und die Pastoral-Atteste russisch abge- 
faßt werden. Bezüglich der Misch-Ehen-Frage verlautet, daß die Regierung 
einige Zugeständnisse zu machen beabsichtige, über deren Tragweite noch nichts 
endgültig beschlossen sein soll. Was die Justizreform in den baltischen Pro- 
vinzen betrifft, so wurde vorläufig die Einführung von besonderen Unter- 
suchungsrichtern beschlossen. 
Januar. (Kurland.) Die Ritterschaft richtet nachstehende 
Adrefse an den Zaren: 
Ew. Kaiserliche Majestät, Allergnädigster Herr! Als Kurland im 
Jahre 1795 sich freiwillig dem russischen Reiche eingereiht hatte, erließ die 
Kaiserin Katharina II., glorreichen Andenkens, am 15. April 1795 ein Ma- 
nifest, in welchem Sie Allergnädigst zu verheißen geruhte: 
„Zugleich erklären wir auf Unser Kaiserliches Wort, daß nicht 
nur die freie Ausübung der Religion, welche Ihr von Euern Vorfahren 
geerbt habt, sondern auch die Rechte und Vorzüge und das einem jeden 
rechtmäßige Eigentum beibehalten werden sollen.“ 
Auf Grund dieser Allerhöchsten Verheißung erfreute sich Kurland 
lange Jahre hindurch völliger Gleichberechtigung der verschiedenen christlichen 
Kirchen. Kein Gesetz hinderte die Freiheit des religiösen Bekenntnisses und 
voller konfessioneller Friede und gegenseitige Achtung der christlichen Konfes- 
sionen herrschte im Lande. 
Die Emanation des Strafgesetzbuchs von 1845 änderte in erschüttern- 
der Weise die Lage der Dinge. An die Stelle der Freiheit kam zu Gunsten 
 
	        
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