Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Januar 4.—5.) 5
Allgem. Zeitung“ bringt einen „von hoher Stelle in Konstantinopel“
ihr übersandten Artikel zum Abdruck.
„Bislang galt es als Regel, daß, wenn man die Handlungsweise
einer Regierung kritisierte oder die Politik eines Staates bekämpfte, man
dabei dem betreffenden Souverän gegenüber mit einer gewissen Ehrerbietung
verfuhr. Diese gute Sitte ist in allem, was die Türkei betrifft, in bedauer-
licher Weise außer acht gelassen worden, seitdem von einer russisch-türkischen
Entente die Rede ist, und zwar waren es hauptsächlich die englischen und
die ungarischen Blätter, die in ihrem ausgesprochenen Russenhasse sich im
höchsten Grade aggressiv und ungerecht gegen den Sultan zeigten. Die Ber-
liner National-Zeitung überbietet indes noch die Sprache dieser Blätter.
Vergeblich, so ruft das genannte Blatt aus, bemüht sich die Pforte, das
Bestehen eines nähern Einverständnisses zwischen ihr und Rußland zu leug-
nen. Es ist außer allem Zweifel, daß eine solche Entente besteht. Die
National-Zeitung erhält diese Nachricht von ihrem Korrespondenten aus
Konstantinopel, der in einem bunten Durcheinander von seltsamen Dingen
unzweifelhaft beweisen will, daß dem Sultan die für ein Staatsoberhaupt
erforderlichen moralischen Eigenschaften fehlen, und daß der genannte Sou-
verän die Türkei dem Rande eines Abgrundes zuführt. Es lohnt kaum der
Mühe, zu sagen, daß diese Mitteilung auf völliger Unwahrheit beruht, ebenso
wie das Gerücht von einer Entente zwischen Rußland und der Türkei. Die
letztere hat keine Veranlassung, Rußland gegenüber eine kurzsichtige Politik
der Opposition zu befolgen. Damit ist aber nicht gesagt, daß dieselbe ge-
neigt sei, Rußland ihre wichtigsten Interessen zu opfern. Von friedlichen
Empfindungen geleitet, aber im Notfall bereit, ihre Rechte als Großmacht
zu wahren, wird die Pforte niemals ihre Zustimmung zu einem Vertrage
geben, über dessen Endziel sie sich nicht klar ist."
4. Januar. Wiederzusammentritt des Reichstages.
5. Januar. Reichstag: Militärvorlage; zweite Lesung in
der Kommission.
Zum ersten Absatz des § 1 der Beschlüsse erster Lesung (vgl. Gesch.
Kal. 1886, Dez. 9.—17.) stellt Rickert (df.) den Antrag: die Zahl der
Friedensstärke für die Zeit vom 1. April 1887 bis zum 31. März 1888
auf 454,402 Mann zu erhöhen; v. Huene (Z.): will die 468,409 der Reg.
Vorlage für ein Jahr annehmen und erklärt „bei einigem Entgegenkommen
der Regierung wohl in Erwägung ziehen zu können, ob es sich nicht em-
pfehlen könnte, auch für den provisorischen Teil der Bewilligungen eine
3 jährige Dauer in Aussicht zu nehmen; jetzt liege aber dazu keine Veran-
lassung vor“. Die Regierungs-Vorlage wird mit 16 gegen 12, darauf auch
die ersten beiden Anträge abgelehnt. In der weiteren Debatte über § 1
behauptet Richter (df.), daß die Regierung durch die Ablehnung der vom
Zentrum angebotenen Bewilligung von jedem Mann und jedem Groschen die
Vorlage ihres militärischen Charakters entkleidet und zu einer konstitutio-
nellen und steuerpolitischen Frage herabgedrückt habe, über deren Lösung nur
der Reichskanzler, nicht der Kriegsminister Auskunft geben könne. Der
Kanzler aber lege durch sein Fernbleiben von der Kommission an den Tag,
daß er auf die Herbeiführung einer Verständigung aus militärischen Grün-
den keinen Wert lege. Diese Ausführungen werden von v. Huene, v. Stauf-
fenberg und Windthorst aufgegriffen, wogegen der Kriegsminister den
rein militärischen Charakter der Vorlage verteidigt und aus diesem Ge-
sichtspunkte die einjährige Bewilligung verwirft. Nach Schluß der Diskus-
sion wird der Antrag Richter, den 2. Absatz des § 1 als § 2 anzuneh-