Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Januar 11.- 14.) 9
Reichskanzler Fürst von Bismarck: „Die verbündeten Regierungen
haben durch ihre Vorlage der Überzeugung Ausdruck gegeben, daß die Wehr-
kraft des deutschen Reiches so, wie sie augenblicklich beschaffen ist, dem deutschen
Volke nicht diejenige Bürgschaft für die Verteidigung des Reichsgebietes ge-
währt, auf welche die Nation ein unverjährbares Recht hat. Diese Über-
zeugung der verbündeten Regierungen ist begründet durch das Urteil, durch
das einstimmige Urteil aller militärischen Autoritäten in Deutschland, Au-
toritäten, deren Kompetenz in ganz Europa sonst anerkannt wird mit der
alleinigen Ausnahme des deutschen Reichstags (Bewegung; oho! links), wo
dem militärischen Urteile dieser Autoritäten, die, ich wiederhole es, sich der
Anerkennung Europas erfreuen, dasjenige der Herren Richter, Windthorst,
Grillenberger entgegengetreten ist. — Meine Herren, ist das ein Irrtum, so
müßten die Druckberichte, die ich zu Hause gelesen habe über Ihre Verhand-
lungen, doch unrichtig sein. Ich habe sie hier: aber ich will Ihre Zeit nicht
weiter aufhalten durch Bezugnahme darauf. Es handelt sich hier vorwie-
gend um die militärische Vorlage. Ich kann nun in der That nicht glau-
ben, daß die Herren, die ich eben nannte, so weit gehen sollten, ihr eigenes
Urteil in militärischen Fragen über das des Feldmarschalls Grafen Moltke,
den wir hier sehen, über das eines kriegserfahrenen Kaisers, über das sämt-
licher deutscher Generalstäbe und Kriegsministerien zu stellen. Es ist doch
kaum möglich, daß ein noch so einsichtiger und an seine Einsicht glaubender
Zivilist der Meinung sein könnte. Ich bin also genötigt, anzunehmen, daß
die Herren in ihrer Opposition gegen die Vorlage noch andere Gründe haben
als die Zweifel an der Autorität des militärischen Urteils derjenigen Stellen,
die ich namhaft gemacht habe. (Murren.) — Aus dem leisen Murren im
Hintergrunde ziehe ich den Schluß, daß Sie bei dieser meiner Andeutung
etwas ganz anderes vermuten, als ich zu sagen beabsichtige. Ob das ein
Zeichen ist, daß irgend jemand sich getroffen fühlt von der anderweiten Ver-
mutung, lasse ich hier unentschieden, das ist mir auch gleichgültig. Ich
fürchte aber, Sie setzen bei den Regierungen andere Motive für deren An-
trag voraus als wie das ausschließliche Bedürfnis unserer defensiven Wehr-
Kraft. Es sind ja in der Presse Äußerungen gefallen, als ob diese ganze
Militärvorlage keinen Zweck weiter hätte, als unter falschen Vorwänden
Steuern, Geld, zu erheben. Das war der Fall in denselben entlegenen Teilen
der Preßpolitik, wo die abenteuerlichsten, die kindischsten Gerüchte, wenn sie
über Nacht ausgeschrien werden, sofort Glauben finden. Es ist das ein so
absurder Gedanke, daß wir mit einer Forderung von 20 bis 30 Millionen
eine Grundlage für neue exorbitante Steuervorschläge gewinnen wollten, daß
ich mich weiter gar nicht damit aufhalte. Was den moralischen Wert einer
solchen Insinuation betrifft und ihre Bedeutung, so will ich doch nur darauf
aufmerksam machen, daß sie ungefähr in gleicher Linie stehen würde mit der
anderen, wenn wir sagen würden, der Widerstand gegen unsere Vorlage sei
eingegeben von dem Wunsche, daß Deutschland im nächsten Kriege nicht
glücklich sein möge. (Murren.) — Das steht ungefähr auf derselben mora-
lischen Höhe wie ihre Verdächtigungen (Murren) — nicht Ihre, sondern die
Preßverdächtigungen gegen die Intentionen der Regierung. Jene andere Ver-
dächtigung hat doch noch mehr Haltbarkeit, da sich nicht leugnen läßt, daß
es viele Einwohner Deutschlands gibt, die das deutsche Reich und seine Fort-
existenz negieren. Ich komme vielleicht auf diese Frage nachher noch weiter
zurück.
Ein glaublicheres Motiv, daß die Regierungen und namentlich die
Vertreter des Kaisers ihre Pläne nicht eingestehen, könnte in der Richtung
gesucht werden, daß eine Verstärkung des deutschen Heeres etwa gewollt werde
aus denselben Gründen, aus denen mancher eroberungs- oder kriegslustige