Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dritter Jahrgang. 1887. (28)

Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Januar 11.—14.) 11 
in dem Zeitraum, in welchem die übelberufene heilige Allianz uns den Frie- 
den erhalten hat. Es wird das jedermann unwiderleglich einleuchten, der 
einen Vergleich zieht zwischen unserer heutigen wirtschaftlichen Situation von 
1886 und zwischen dem Maße von Wohlhabenheit und zivilisatorischer Ent- 
wickelung, das in ganz Europa, namentlich aber in Deutschland im Jahre 
1816 herrschte. Der Unterschied ist ein so ungeheurer, wie er kaum je in 
früheren Jahrhunderten in einer gleichen Epoche stattgefunden hat; der Fort- 
schritt zum Günstigen, zur Wohlhabenheit der Gesamtheit ist ein gewaltiger 
gewesen. Nun, ich weiß nicht, ob es uns gelingen wird, wiederum eine 
Friedensepoche von derselben Länge, d. h. von mehr als 30 Jahren, herzu- 
stellen. Unsere Bemühungen dazu sind aufrichtig; vor allem aber brauchen 
wir dazu ein starkes Heer, ein Heer, das stark genug ist, um unsere eigene 
Unabhängigkeit ohne jeden Bundesgenossen sicher zu stellen. In Anbetracht 
dieser Wirkung der früheren Freundschaft der drei großen östlichen Höfe 
haben wir nicht bloß die Aussöhnung mit unserem früheren Gegner, son- 
dern auch die Neubegründung der Freundschaft zwischen den jetzigen drei 
Kaisermächten als unsere Aufgabe betrachtet. Unsere eigenen Beziehungen 
zu Rußland waren dabei nicht schwierig. Unsere Freundschaft mit Rußland 
hat in der Zeit unserer Kriege gar keine Unterbrechung erlitten und ist auch 
heute über jeden Zweifel erhaben. Wir erwarten von Rußland durchaus 
weder einen Angriff, noch eine feindselige Politik. — Wenn ich das so un- 
befangen ausspreche, so kann ich der Vorlage dadurch möglicherweise die 
Stimmen der polnischen Abgeordneten entfremden, die sonst ja doch ganz 
gewiß für die möglichste Stärkung der deutschen Macht gegen russische An- 
riffe stimmen würden, da sie bei einem russischen Siege nichts zu erwarten 
haben. Aber ich muß doch der Wahrheit die Ehre geben und sagen: alle 
die Motive für die Vorlage, die man aus unseren Beziehungen zu Rußland 
entnommen hat, sind nach meiner politischen Auffassung hinfällig. Wir 
leben mit Rußland in derselben freundschaftlichen Beziehung wie unter dem 
hochseligen Kaiser, und diese Beziehung wird unsererseits auf keinen Fall 
gestört werden. Was hätten wir denn für ein Interesse, Händel mit Ruß- 
land zu suchen? Ich fordere jeden heraus, mir eins nachzuweisen. Die 
bloße Rauflust kann uns doch unmöglich dazu bringen, mit einem Nachbar, 
der uns nicht angreift, Händel zu suchen. Solchem barbarischem Instinkte 
sind die deutschen Regierungen und die deutschen politischen Auffassungen 
unzugänglich. Also unsererseits wird der Friede mit Rußland nicht gestört 
werden, und daß man uns von russischer Seite angreifen werde, glaube ich 
nicht. Ich glaube auch nicht, daß man von russischer Seite nach Bündnissen 
sucht, um in Verbindung mit anderen uns anzugreifen, oder daß man von 
Schwierigkeiten, die wir auf anderer Seite haben könnten, den Gebrauch 
machen würde, uns mit Leichtigkeit anzugreifen. Der Kaiser Alexander III. 
von Rußland hat jederzeit den Mut seiner Meinung gehabt, und wenn er 
mit Deutschland in unfreundliche Beziehungen zu treten beabsichtigte, so ist 
er der erste, der dies sagen und zu erkennen geben würde. Das Vertrauen 
kann jeder zu ihm haben, der die Ehre gehabt hat, ihm irgendwo näher zu 
treten. Alle Argumente also, die für unsere Vorlage daraus entnommen 
sind, daß wir einer Koalition von Frankreich und Rußland gegenüberzu- 
treten haben würden, die assumiere ich meinerseits nicht, und unsere Stärke 
ist darauf ja auch nicht zu berechnen. Wir könnten sie ebenso gut auf eine 
Koalition zu dreien, wie sie im 7jährigen Kriege gegen uns stattgefunden 
hat, berechnen wollen, denn die Möglichkeit ist ja nicht auszuschließen, daß 
wir, wie Friedrich der Große im 7jährigen Kriege die Errungenschaften der 
beiden ersten schlesischen Kriege zu verteidigen hatte, auch unsere Errungen- 
schaften in einem noch größeren Kriege als in den vorhergehenden zu ver- 
  
 
	        
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