Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Januar 11.—14.) 11
in dem Zeitraum, in welchem die übelberufene heilige Allianz uns den Frie-
den erhalten hat. Es wird das jedermann unwiderleglich einleuchten, der
einen Vergleich zieht zwischen unserer heutigen wirtschaftlichen Situation von
1886 und zwischen dem Maße von Wohlhabenheit und zivilisatorischer Ent-
wickelung, das in ganz Europa, namentlich aber in Deutschland im Jahre
1816 herrschte. Der Unterschied ist ein so ungeheurer, wie er kaum je in
früheren Jahrhunderten in einer gleichen Epoche stattgefunden hat; der Fort-
schritt zum Günstigen, zur Wohlhabenheit der Gesamtheit ist ein gewaltiger
gewesen. Nun, ich weiß nicht, ob es uns gelingen wird, wiederum eine
Friedensepoche von derselben Länge, d. h. von mehr als 30 Jahren, herzu-
stellen. Unsere Bemühungen dazu sind aufrichtig; vor allem aber brauchen
wir dazu ein starkes Heer, ein Heer, das stark genug ist, um unsere eigene
Unabhängigkeit ohne jeden Bundesgenossen sicher zu stellen. In Anbetracht
dieser Wirkung der früheren Freundschaft der drei großen östlichen Höfe
haben wir nicht bloß die Aussöhnung mit unserem früheren Gegner, son-
dern auch die Neubegründung der Freundschaft zwischen den jetzigen drei
Kaisermächten als unsere Aufgabe betrachtet. Unsere eigenen Beziehungen
zu Rußland waren dabei nicht schwierig. Unsere Freundschaft mit Rußland
hat in der Zeit unserer Kriege gar keine Unterbrechung erlitten und ist auch
heute über jeden Zweifel erhaben. Wir erwarten von Rußland durchaus
weder einen Angriff, noch eine feindselige Politik. — Wenn ich das so un-
befangen ausspreche, so kann ich der Vorlage dadurch möglicherweise die
Stimmen der polnischen Abgeordneten entfremden, die sonst ja doch ganz
gewiß für die möglichste Stärkung der deutschen Macht gegen russische An-
riffe stimmen würden, da sie bei einem russischen Siege nichts zu erwarten
haben. Aber ich muß doch der Wahrheit die Ehre geben und sagen: alle
die Motive für die Vorlage, die man aus unseren Beziehungen zu Rußland
entnommen hat, sind nach meiner politischen Auffassung hinfällig. Wir
leben mit Rußland in derselben freundschaftlichen Beziehung wie unter dem
hochseligen Kaiser, und diese Beziehung wird unsererseits auf keinen Fall
gestört werden. Was hätten wir denn für ein Interesse, Händel mit Ruß-
land zu suchen? Ich fordere jeden heraus, mir eins nachzuweisen. Die
bloße Rauflust kann uns doch unmöglich dazu bringen, mit einem Nachbar,
der uns nicht angreift, Händel zu suchen. Solchem barbarischem Instinkte
sind die deutschen Regierungen und die deutschen politischen Auffassungen
unzugänglich. Also unsererseits wird der Friede mit Rußland nicht gestört
werden, und daß man uns von russischer Seite angreifen werde, glaube ich
nicht. Ich glaube auch nicht, daß man von russischer Seite nach Bündnissen
sucht, um in Verbindung mit anderen uns anzugreifen, oder daß man von
Schwierigkeiten, die wir auf anderer Seite haben könnten, den Gebrauch
machen würde, uns mit Leichtigkeit anzugreifen. Der Kaiser Alexander III.
von Rußland hat jederzeit den Mut seiner Meinung gehabt, und wenn er
mit Deutschland in unfreundliche Beziehungen zu treten beabsichtigte, so ist
er der erste, der dies sagen und zu erkennen geben würde. Das Vertrauen
kann jeder zu ihm haben, der die Ehre gehabt hat, ihm irgendwo näher zu
treten. Alle Argumente also, die für unsere Vorlage daraus entnommen
sind, daß wir einer Koalition von Frankreich und Rußland gegenüberzu-
treten haben würden, die assumiere ich meinerseits nicht, und unsere Stärke
ist darauf ja auch nicht zu berechnen. Wir könnten sie ebenso gut auf eine
Koalition zu dreien, wie sie im 7jährigen Kriege gegen uns stattgefunden
hat, berechnen wollen, denn die Möglichkeit ist ja nicht auszuschließen, daß
wir, wie Friedrich der Große im 7jährigen Kriege die Errungenschaften der
beiden ersten schlesischen Kriege zu verteidigen hatte, auch unsere Errungen-
schaften in einem noch größeren Kriege als in den vorhergehenden zu ver-