Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Januar 11. - 14.) 17
es selbst erlebt. Diese Kalamität, daß der Krieg ausbrechen könnte, wird
vielleicht gefördert, wenn der Krieg leicht erscheint, wird verhindert, wenn
der Krieg schwer erscheint. Je stärker wir sind, desto unwahrscheinlicher ist
der Krieg. Die Wahrscheinlichkeit eines französischen Angriffs auf uns, die
heute nicht vorliegt, tritt ein, wenn unter dem Eintritt einer anderen Re-
gierung als die heutige, Frankreich irgend einen Grund hat, zu glauben,
daß es uns überlegen sei. Dann, glaube ich, ist der Krieg ganz sicher. Diese
Überzeugung kann beruhen auf Bündnissen, die Frankreich hätte. Ich habe
vorhin entwickelt, daß ich nicht glaube, daß solche Bündnisse stattfinden wer-
den; es ist eine Aufgabe der Diplomatie, darnach zu streben, daß dies ver-
hindert werde, oder Gegenbündnisse zu haben, wenn dies eintritt. Ich will
bloß das Duell zwischen uns und Frankreich ins Auge fassen. Das kann
also eintreten, sobald Frankreich stärker ist als wir: einmal durch Bünd-
nisse oder auch durch die Uberlegenheit seiner Bewaffnung. Diese reine tech-
nische Frage überlasse ich meinem militärischen Kollegen; ungeachtet der Uni-
form, die ich trage, fällt es mir nicht ein, habe ich nicht die Unbescheiden-
heit, meine Autorität in dergleichen Sachen über die der Herren zu stellen.
Aber wenn die Franzosen glauben, daß entweder ihre Armee zahlreicher ist,
daß die Masse ihrer ausgebildeten Soldaten zahlreicher ist als die der unsrigen,
daß ihre Artillerie zahlreicher ist, oder vielleicht daß ihr Gewehr besser ist
— wie es 1870 besser war —, oder daß ihr Pulver besser ist, weil sie das
richtige Pulver zu einem kleinkalibrigen, schnellschießenden Gewehr früher
haben als wir, — das sind alles Sachen, die unter Umständen die Ent-
schließung der französischen Regierung für den Krieg bestimmen können; denn
sobald sie glauben, zu siegen, fangen sie den Krieg an. Das ist meine feste,
unumstößliche Uberzeugung, und Sie mögen mehr Erfahrungen in der Po-
litik und im Urteil haben, als ich, — ich kann nur nach meiner Uberzeu-
gung handeln. Ich sage also: wir müssen auf den Fall eingerichtet sein,
daß wir in einem solchen Krieg unterliegen sollten; ja ich bin nicht furcht-
sam genug, das vorauszusehen; aber die Möglichkeit kann doch niemand be-
streiten. Bis jetzt sind es nur mutige Zivilisten, die meinen, keiner Ver-
stärkung zu bedürfen; diejenigen Generäle und Heerführer, diejenigen Feld-
herren unter unseren Souveränen, die persönlich Fühlung mit der französi-
chen Klinge gehabt haben, die sind durchaus anderer Meinung. Wenn so
furchtlose Leute der Meinung sind: wir brauchen, um den nächsten Krieg mit
Frankreich sicher zu bestehen, um der französischen Armee ebenbürtig zu sein,
die und die Verstärkung, — dann finde ich es einen traurigen Mut, dem
gegenüber zu sagen: Sie irren sich, wir brauchen sie nicht, wir sind so stark
genug. Ich sage: einen traurigen Mut, weil dieses mich einigermaßen an
den miles gloriosus erinnert, der sagt: wir schlagen die Franzosen auch so
wie so. Meine Herren, da irren Sie sich, die parlamentarischen Strategen!
Sie unterschätzen die Macht von Frankreich: Frankreich ist ein großes mäch-
tiges Land, ebenso mächtig wie wir, Frankreich hat ein kriegerisches Volk
und ein tapferes Volk und hat jederzeit geschickte Heerführer gehabt. Es ist
ein Zufall, wenn sie uns unterlegen sind. Sie unterschätzen die Franzosen
in der allerirrtümlichsten Weise, und es wäre eine Überhebung, zu sagen,
daß Frankreich an und für sich als geschlagen zu betrachten wäre, wenn es
uns gegenübersteht.
Wenn aber die Sachen so zweifelhaft sind nach dem Urteil der kom-
petenten Behörden, wenn die Möglichkeit überhaupt nach menschlicher Be-
rechnung vorhanden ist, daß wir geschlagen werden können, — ja, meine
Herren, dann sind die Folgen eines unglücklichen Krieges doch zu traurig,
als daß irgend jemand, wenn sie eintreten, die Verantwortung für ein sol-
ches Votum tragen könnte. Es ist viel von ministerieller Verantwortlichkeit
Europ. Geschichtskalender. Bd. XXVIII. 2