Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neue Folge. Dritter Jahrgang. 1887. (28)

518 Mebersicht der polilischen Gutwichelnus des Jahres 1887. 
die Wahrscheinlichkeit eines russischen Krieges nahezu abgeläugnet. 
Da die russische Publizistik besonders mit der Behauptung gegen 
Deutschland arbeitete, daß Deutschland auf dem Berliner Kongresse 
Osterreich Bosnien verschafft und den Frieden von San Stephano 
aufgehoben habe, so veröffentlichte Ende April die „Norddeutsche 
Allgemeine Zeitung"“ eine Reihe von Aktenstücken, aus denen her- 
vorging, daß Fürst Gortschakoff bereits vor dem Beginn des Krie- 
ges im Januar 1877 Oesterreich Bosnien vertragsmäßig überant- 
wortet habe, die russische Diplomatie also selbst diese ihr jetzt so 
anstößige Situation geschaffen habe (vgl. Preuß. Jahrb. Bd. 59 
S. 615). Alles Entgegenkommen aber, alle Beweisführung blieb 
erfolglos. 
Am 25. Mai erschien ein Ukas, welcher vorschreibt, daß in 
den westlichen Gouvernements Grundeigentum nur noch an Russen 
vererbt oder verkauft werden kann. Ausländische Erben müssen ihren 
Besitz binnen drei Jahren an Russen verkaufen. Das ist für die 
zahlreichen deutschen Besitzer in Rußland so gut wie Konfiskation, 
da Russen von genügender Kapitalkraft zur Uebernahme der Güter 
zu wenig vorhanden find. Als man sich diese Tragweite der Be- 
stimmung klar gemacht hatte, begann die deutsche Presse darauf 
hinzuweisen, daß die russische Regierung so gut wie sie deutschen 
Grundbesitz in Rußland legislativ entwerten, auch deutschen Besitz 
von russischen Papieren konfiszieren könne. Bei weitem der größte 
Teil der auswärtigen russischen Staatsschuld ist in deutschen Händen, 
man nimmt an über 2 Milliarden. Würde die russische Regierung 
im Falle eines Krieges mit Deutschland diesen Gläubigern Zinsen 
zahlen? Ja, ist es so sicher, daß selbst im Frieden die Verpflich- 
tung, die Zinsen in Gold und nicht in entwerteten Papierrubeln 
zu zahlen, gehalten wird? Hier und da ist schon in der russischen 
Presse der Gedanke aufgetaucht, die russischen Finanzen durch Ver- 
kürzung des verhaßten ausländischen Gläubigers aufzubessern. Na- 
mentlich war es wieder ein Artikel in der „Post“, der die Finanz- 
welt erschreckte und den Kurs mehrerer russischer Papiere in einem 
Tage um 10% warf. Der Kurs des russischen Papierrubels, der 
in Berlin normal über 320 stehen müßte, sank bis auf 175. 
Dieser Kampf gegen den russischen Kredit war zwar ein für Ruß-
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.