98 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Juni 5.)
Deutschen niemals die Stärke erlangt, in der sie heut betrieben wird. Auch
von England geht ähnliche Agitation aus; aber deutsche Polizeibeamte, die
mit Beobachtung derselben beauftragt werden, laufen dort nicht Gefahr, ein-
gesperrt und ausgewiesen zu werden, sondern finden in ihren Bestrebungen
zur Verhütung von Verbrechen jede Förderung und Unterstützung, welche
gesetzlich zulässig ist. Von der Schweiz haben wir nur Duldung unserer
prophylaktischen Beobachtungen verlangt, nur dieselbe Duldung, welche
deutsche Verschwörer dort finden. Solange wir darauf rechneten, haben wir
uns jeder Beschwerde über die Zulassung und, in mehreren Fällen, Förde-
rung reichsfeindlicher Umtriebe durch Schweizer Behörden enthalten. Der
Fall Wohlgemuth bekundet aber gleich dem des Polizeihauptmanns Fischer
offene und wirksame Parteinahme der Schweizer Behörden gegen das deutsche
Reich und für dessen in der Schweiz gegen uns thätige Feinde. Wir haben
es ruhig ertragen, daß die Leitung der deutschen Sozialdemokratie von der
Schweiz aus erfolgt, daß sie dort ihre Kongresse abhält, ihre Aktionspro-
gramme entwickelt und mit Hilfe von Kantonalbehörden gegen die deutsche
Regierung verwirklicht, ihre aufrührerischen Proklamationen herstellt und in
der deutschen Bevölkerung verbreitet. Wenn ein Baseler Großrat, wie Herr
Wollschläger, sich ungestraft in öffentlicher Versammlung rühmen darf, daß
er den sozialdemokratischen Agitator Lutz angestiftet habe, einen deutschen
Beamten auf Schweizer Gebiet zu locken, und wenn nach dem Geständnis
dieses selben Mannes der Bezirks-Amtmann zu Rheinfelden sich dazu her-
gab, den nämlichen Sozialdemokraten bei der Verhaftung und Gefangen-
haltung eines deutschen Beamten seine hilfreiche Hand zu leisten und dadurch
einer befreundeten Regierung gegenüber seine dienstliche Stellung zu miß-
brauchen, so ist der Fall Wohlgemuth nur der Tropfen Wasser, der das
Glas zum Ueberlaufen gebracht hat. Die Neutralität ist ein Privilegium,
dessen Mißbrauch der Privilegierte vermeiden muß; dasselbe wird unnatür-
lich und unhaltbar, wenn von seiner Grundlage aus eine beleidigende Miß-
achtung der Interessen des Nachbarstaates für berechtigt gehalten wird. Wir
glauben, daß die von Deutschland und Rußland am 13. cr. gleichzeitig in
Bern gemachten Eröffnungen diesem Gedanken Ausdruck gegeben haben.
Der in dem deutsch-schweizerischen Zwischenfalle mehrfach an-
geregte Artikel 2 des Niederlassungs-Vertrages vom 27. April 1876
lautet wie folgt:
„Um in der Schweiz Wohnsitz zu nehmen oder sich dort niederzulassen,
müssen die Deutschen mit einem Heimatsschein und einem von der zustän-
digen Heimatsbehörde ausgestellten Zeugnisse versehen sein, durch welches
bescheinigt wird, daß der Inhaber im Vollgenuß der bürgerlichen Ehrenrechte
sich befindet und einen unbescholtenen Leumund genießt."
Ihm zur Seite wird dann in Art. 3 der Schweiz für ihre
Angehörigen dieselbe Gegenseitigkeit zugesichert.
Die „Post“ interpretiert diese Paragraphen folgendermaßen:
Das Asylrecht wird durch diese Bestimmungen nicht berührt. Zu-
gestandenermaßen sind die in der Schweiz früher und jetzt befindlichen So-
zialdemokraten, Revolutionäre und Anarchisten gar nicht als politische Flücht-
linge in der Schweiz. Sie begeben sich dorthin, sei es auf Grund besonderer
Abordnung ihrer Mitverschworenen, sei es auf freiwilligen Entschluß, um
von dem sicheren Boden der Schweiz gegen das Heimatsland ihre revolutio-
nären Angriffe zu richten und zu gelegener Zeit dorthin zurückzukehren, wie
Reinfeld, Neve, Lieske, Hödel und andere. Für diese das Land zur Zu-