Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Dezember 1. Hlfte.) 149
angedeutet, verhängnisvoll geworden. Wir hatten damals im Reichstage
eine Vertretung von etwa 100 Köpfen und sind darnach auf ein Drittel
zurückgegangen, unsere Gegner haben sich durch unsere eigenen Truppen ver-
stärken können, mit solchen, die bis dahin mit der Sezession gingen und
nun nichts mehr mit der vereinigten Partei zu thun haben wollten. In
sehr vielen Wahlkreisen besteht jetzt das Bedürfnis, eine neue liberale Partei
zwischen der deutschfreisinnigen Partei und dem ehemaligen Nationallibera=
lismus zu begründen. Dieses Bedürfnis müssen wir geschickter Weise be-
günstigen."
Die „Freisinnige Zeitung“ bemerkt zu dem Vorgang:
Herr Bulle scheidet bekanntlich mit dem Ablauf dieser Session aus
dem Reichstage aus. Die Aeußerungen Bulles sind der Reflex eines Ver-
suchs, in Bremen einen zwischen der freisinnigen Partei und der national-
liberalen Partei stehenden Kandidaten aufzustellen. Dieser Versuch ist ebenso
in Bremen gescheitert wie in Braunschweig und in München. Die große
Masse der freisinnigen Wähler will von dem Ansatz einer neuen Mittel-
partei zwischen Freisinn und Kartell absolut nichts wissen. Der Geschäfts-
führer der freisinnigen Partei, Regierungsrat a. D. Bossart aus Hannover,
trat den zu einer Mißdeutung Anlaß gebenden Aeußerungen Bulles scharf
entgegen, indem er es unter dem lebhaftesten Beifall der Versammlung als
den größten politischen Fehler bezeichnete, in diesem Augenblick mit Neu-
bildung einer Partei zu kommen. Bulle war überhaupt in der Versamm-
lung völlig vereinzelt.
1. Hälfte Dezember. Der Reichstagsabgeordnete Freiherr
von Hammerstein macht dem Vorstande des konservativen Vereins
in Stolp die Mitteilung, daß er auf eine Wiederwahl im
Stolper Wahlkreise verzichte, nachdem ihm der Minister
von Puttkamer den Wunsch zu erkennen gegeben habe, in den
Reichstag gewählt zu werden.
1. Hälfte Dezember. Reise Kaiser Wilhelms an den Hof
von Darmstadt. Von da Fahrt zum Lutherfestspiel von Hans
Herrig im neugebauten Wormser Volkstheater. Auf dem Bahnhof
daselbst Empfang einer Arbeiterdeputation, der der Kaiser bemerkt,
es sei ihm längst bekannt, daß die Irrlehren der Sozialdemokraten
bei den Wormser Arbeitern keinen Eingang gefunden hätten; in dieser Be-
ziehung seien die Wormser Arbeiter ein Vorbild für die ganze Arbeiter-
schaft im Reiche. Er hoffe, daß die Wormser Arbeiter ihre Treue zu Staat
und Reich bewahren werden.
Auf die Ansprache des Bürgermeisters der Stadt Worms
antwortet der Kaiser:
Er spreche Seinen herzlichsten Dank aus für den Ihm gewordenen
Empfang und bitte, solchen auch der Bürgerschaft in geeigneter Weise aus-
zusprechen. Er freue Sich, das alte Worms haben besuchen zu können, das
von der Sage umwoben sei, die an das Herrlichste anknüpfe, was wir in
der deutschen Literatur besitzen. Das Nibelungenlied allein schon sei die
Perle aller deutschen Dichtung und seine Klänge umweben um so mehr den
Namen der Stadt Worms. Sage und Geschichte hätten hier gleich mächtig
und groß auf die religiöse und moralische Stärkung des Volkes eingewirkt.
Er sehe in Worms mit inniger Rührung das Denkmal Luthers, von dem