304 Serbien. (Januar 22. — März 6.)
22. Januar. (Verfassungsausschuß.) Der mit der Aus-
arbeitung des provisorischen Wahlgesetzes für die nächsten Skupschtina-
wahlen betraute engere Verfassungsausschuß wählt einen aus 3 Mit-
gliedern, den gewesenen Ministern Stojan Boskovic und Peter Veli-
mirovic, sowie dem Advokaten Stajanovic bestehenden Ausschuß
behufs Ausarbeitung eines Wahlgesetzentwurfs. Zugleich werden
Sachverständige nach Dänemark, Belgien, Frankreich und Griechen-
land zum Studium der dortigen Wahlsysteme gesandt.
1. März. (Aufruf der liberalen Partei.) Das Organ
der Liberalen veröffentlicht einen vom Zentralausschuß der liberalen
Partei unterzeichneten Aufruf, welcher die Mitglieder zur Organi-
sation der Partei auffordert und auf folgende Punkte hinweist:
In die neue Verfassung sei zwar ein großer Teil der liberalen Pro-
grammpunkte aufgenommen worden, nichtsdestoweniger sei aber angesichts der
Neuverfassung eine erneute Präzisierung des Programms notwendig und wird
zu dem Zweck ein Landesparteitag in Aussicht gestellt. Bei der Reform des
Programms müsse das Hauptaugenmerk der finanziellen und wirtschaftlichen
Lage zugewendet werden, dringend notwendig sei die Konvertierung der
Staatsschulden. Die liberale Partei, welche trotz zweier Kriege um die Un-
abhängigkeit kaum 7 Millionen Franks Schulden, ohne Vergrößerung der
Steuerlast gemacht, habe bewiesen, daß sie für Regelung der Finanzen Sinn
habe und zu sparen verstehe.
6. März. (Abdikation König Milans.) Während in
den ersten Tagen dieses Monats allgemein nur von einem zeit-
weiligen Rücktritt des Königs von der Regierung gesprochen wurde,
teilt König Milan am 6. den fremden Gesandten seinen Entschluß
mit, definitiv zu Gunsten seines Sohnes abzudanken.
Im Thronsaaale verabschiedete er sich von allen Würdenträgern und
den Hauptparteiführern, indem er zunächst die Abdankungsurkunde verlas
und hierauf eine Ansprache an seinen Sohn hielt, der mittlerweile an die
rechte Seite seines Vaters getreten war. König Milan sagte, er habe das
Recht, dem neuen König Ratschläge zu geben. Er solle stets mit seinem
Volke gemeinsam arbeiten, seine Ratgeber stets aus dem Kern des Volkes
wählen und heuchlerischen, ehrgeizigen Menschen nicht vertrauen. Hierauf
leistet Milan, knieend, die Hand aufs Kruzifix gelegt, als erster serbischer
Unterthan und als erster General der serbischen Armee, dem neuen König
den Eid. Nachdem die Zeremonie beendet war, eilte alles in die Stadt, um
die Kunde von dem Ereignisse zu verbreiten, das für die Bevölkerung Bel-
grads eine vollständige Ueberraschung war, während allerdings die diploma-
tischen Kreise schon seit einiger Zeit darum wußten.
König Milan war zuvor ein von seinem Entschlusse ab-
ratendes Schreiben von Kaiser Wilhelm II. und Kaiser Franz Josef
zugegangen. Kaiser Wilhelm hatte eigenhändig in einem sieben
Seiten starken Briefe dem Könige seine Bedenken ausgesprochen.
Er gab dem Gedanken Ausdruck, daß die Pflicht in erhöhtem Maße